Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
wollen. Es hätte zu der Persönlichkeit ihrer Mutter gepasst. Sie war auch sich selbst gegenüber immer voller Härte gewesen, als hätte sie einen ständigen inneren Kampf geführt. Nachdenklich sah Madeleine plötzlich wieder ihr Bild vor sich, wie sie im Morgengrauen vor ihrem Bett kniete und leise murmelnd betete. Über Stunden hatte sie das manchmal ge tan. Hatte sie wirklich eine so tiefe Verbundenheit zu Gott empfunden? Oder gab es noch andere Dinge, die sie nicht erzählt hatte? Aus unerfindlichen Gründen hatte sie das Gefühl, dass das Verhalten ihrer Mutter ein Schlüssel war, um auch ihr eigenes Leben zu begreifen. Sie betrachtete nachdenklich die dunklen Umrisse der Bäume und Sträucher. Dann drehte sie sich um und wollte zurück ins Schloss gehen – doch sie fuhr zusammen.
An einem der anderen Pfeiler, nur einige Schritte entfernt von ihr, lehnte die bewegungslose Gestalt eines Mannes.
Selbst im Halbdunkel konnte sie sein Gesicht erkennen.
Er schaute sie an.
»Hast du wieder den Traum gehabt?« In seiner rauen Stimme schwang ein sanfter Unterton.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte nur nicht schlafen«, erwiderte sie.
Er war langsam auf sie zugekommen. »Du gehst mir aus dem Weg, oder?«
»Nein.«
»Doch!« Er stand fast vor ihr, und sie nahm in ihrem Rücken den kühlen Stein des Pfeilers wahr, gegen den sie zurückgewichen war. Er lächelte. »Wegen des Kusses?«, fragte er dann.
Sie war dankbar, dass man in der Dunkelheit nicht die Röte erkennen konnte, die bei seinen Worten in ihre Wangen stieg. Warum musste er sie auch noch einmal darauf ansprechen?
»Nein, und ich wäre Euch dankbar, wenn ihr diesen … Kuss nicht noch einmal erwähnen würdet.«
»Weshalb? Du hast mir in der Nacht keine Zeit gelassen, etwas zu sagen. Du bist einfach weggerannt …«
»Ihr braucht mir nichts zu erklären«, unterbrach sie ihn mit kühler Miene. »Ich habe sehr gut verstanden!«
»Was hast du verstanden?«, fragte er und stützte die Hand neben ihr am Pfeiler ab.
Sie richtete sich so gerade sie konnte auf. »Dass wir nicht derselben Welt angehören und ich außerdem auch noch Katholikin bin«, stieß sie hervor.
Er sah sie ungläubig an und brach dann in ein leises, kehliges Lachen aus. »Du glaubst, ich habe dich nicht weiter geküsst, weil du Katholikin bist?«
Er neigte sein Gesicht etwas zu ihr, sodass sie seinen warmen Atem spüren konnte, der ihre Wangen streifte. »Glaubst du das wirklich?«
»Hört auf damit«, sagte sie leise.
»Womit?«, erwiderte er. »Du wirktest so aufgelöst und verzweifelt in der Nacht«, sagte er dann. »Ich wollte die Situation nicht ausnutzen … Hätte ich allerdings gewusst, dass mein ritterlich gedachtes Verhalten von dir so missverstanden wird, hätte ich mich selbstverständlich nicht so zurückgehalten«, setzte er spöttisch hinzu.
Madeleine spürte, wie eine flammende Hitze in ihre Wangen schoss. »Wollt Ihr Euch über mich lustig machen?«, fuhr sie ihn an.
»Nein, nicht im Geringsten«, entgegnete er mit einem Unterton, den sie nicht zu deuten vermochte. Seine Augen glitzerten in der Dunkelheit, und sie spürte, wie sich ihr Puls unter der Intensität seines Blickes beschleunigte.
»Wie alt bist du – zwanzig, einundzwanzig?«, fragte er plötzlich.
Sie versuchte, ihren pochenden Herzschlag zu ignorieren. »Spielt das eine Rolle?«
Ein Lächeln glitt erneut über seine Lippen. »Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte er und zog sie mit einem Mal an sich und küsste sie. Ein leichter Schwindel ergriff Madeleine, als seine Lippen die ihren liebkosten und sie unter seinem Hemd die Muskeln seines Körpers fühlte. Als er sich schließlich wieder von ihr löste, ging ihr Atem schneller.
Eine Weile schaute er sie nur an. Dann strich er ihr sanft durchs Haar. »Du musst mir etwas sagen, Madeleine. Was ist auf der Lichtung im Wald geschehen?«, fragte er. »Wieso wusstest du, dass der Bogenschütze schießen würde?« Seine Stimme, die noch immer rau und verführerisch klang, stand im verwirrenden Kontrast zum Inhalt seiner Worte, die Madeleine zurück in die Wirklichkeit rissen.
»Wieso fragst du das?«, murmelte sie. »Du weißt, was dort passiert ist.«
Seine Finger waren weiter durch ihr Haar gewandert, über ihren Nacken, strichen die Linie ihres Halses entlang, und er schüttelte den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht«, widersprach er bedächtig. Er zog sie erneut zu sich heran, sodass seine Lippen die ihren fast berührten. Doch diesmal
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