Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
küsste er sie nicht.
Madeleine stockte der Atem. Sie blickte auf die Narben auf seiner Wange, die im Mondlicht silbrig glänzten, und sah ihm dann in die Augen.
»Ich weiß nicht im Geringsten, was dort geschehen ist«, fuhr er leise fort. »Erklär es mir also bitte.«
Sie bekam plötzlich Angst vor ihm, obwohl ihr Körper noch immer auf seine Berührungen reagierte. Am liebsten hätte sie sich losgerissen und wäre einfach weggelaufen, doch er hatte den Griff um ihre Taille unmerklich verstärkt. Seine Finger strichen noch immer zart über die Linie ihres Halses hinab zu ihrem Schlüsselbein. »Sag es mir, Madeleine«, bat er.
Trotz aller Sanftheit und Erregung lag etwas Unerbittliches in dem Ausdruck seines Gesichts.
»Wieso glaubst du nicht, was ich dir erzählt habe?«, versuchte sie, seine Fragen abzuwehren, und klang dabei aufgebrachter, als sie es wollte.
»Was soll ich dir glauben?«, entgegnete er ruhig. »Dass du den Bogenschützen erkannt hast, obwohl du nicht einmal in seine Richtung gesehen hast? Genauso, wie du auch rein zufällig mitbekommen haben willst, dass die Männer der Guise einen Anschlag auf den Admiral geplant haben?« Der Sarkasmus, der in seinen Worten schwang, traf sie.
»Lass mich los!«, sagte sie tonlos. Sie hatte vergessen, wer er war – ein Anführer der Hugenotten, der für die Sicherheit von Coligny zuständig war. Wie hatte sie glauben können, dass er sich täuschen lassen würde.
»Nicht bevor du mir geantwortet hast!«, erwiderte er.
»Was soll das? Willst du mich vielleicht zwingen? Dazu hast du kein Recht!«, stieß sie hervor und versuchte, sich loszureißen, doch er hielt sie tatsächlich fest.
»Verstehst du denn nicht, dass ich das fragen muss?«
»Hast du mich nur deshalb geküsst?«, entgegnete sie kalt.
Er blickte sie überrascht an. »Nein!«, erwiderte er. »Nicht deshalb! … Wovor hast du solche Angst, Madeleine? Sag es mir!« Seine Stimme war erneut unerwartet sanft, und sie erinnerte sich, dass er ihr damals im Wald, als sie ihn geküsst hatte, dieselbe Frage gestellt hatte.
Panik ergriff sie. Sie wusste, dass es keinen Sinn haben würde, ihn anzulügen. »Das kann ich nicht. Bitte lass mich«, sagte sie. Ein Gefühl der Verzweiflung überkam sie, und mit einem Mal traten ihr die Tränen in die Augen.
»Madeleine …«, sagte er.
»Ich kann nicht. Es hat nichts mit dir zu tun«, stieß sie erneut hervor.
»Du solltest mir vertrauen!« Er schaute sie an. »Als du uns damals vor dem Wirtshaus vor dem Anschlag gewarnt hast, da hast du Ronsard angesehen und bist plötzlich bleich vor Entsetzen geworden. Erst dann hast du uns gewarnt. Ich hatte es vergessen. Aber auf der Lichtung im Wald habe ich mich wieder erinnert, denn da hast du genau auf die gleiche Weise reagiert.«
Sie schwieg wie versteinert. Seine Worte verdeutlichten ihr wieder einmal, in welcher Gefahr sie sich befand. Wenn es allein um den Anschlag gegangen wäre, würde man ihr vielleicht glauben, dass sie nur durch Zufall etwas mitbekommen hatte. Nicht aber, wenn es zu weiteren Vorfällen kam, so wie auf der Lichtung. Man würde ihr Fragen stellen, wie es Vardes jetzt tat. Aber konnte sie das Risiko eingehen, sich ihm anzuvertrauen?
»Es war kein Zufall, oder?«, sagte er.
»Nein«, gab sie zögernd zu, als sie plötzlich erstarrte. Hinter ihnen war das Geräusch von Schritten hörbar geworden, und man sah die Umrisse einer Gestalt, die am Absatz der Terrasse aufgetaucht war.
»Oh, ich hoffe doch, dass ich hier kein romantisches Rendezvous störe?«
Madeleine nahm wahr, wie Vardes sie losließ und sich herumdrehte. »Guten Abend, Philippe!«, sagte er mit ausdrucksloser Miene.
»Guten Morgen wäre besser angebracht, oder?«, entgegnete dieser mit einem glatten Lächeln, während er zu ihnen trat. Er musterte Madeleine, die eilig ihren Umhang mit der Hand über der Brust zusammengefasst hatte. Erstaunt blieb sein Blick an ihrem verweinten Gesicht hängen. »Tränen? Also handelt es sich doch um kein romantisches Tête-à-Tête zwischen euch beiden?« Er wandte sich Vardes zu. »Du unterziehst unsere kleine Lebensretterin doch wohl keinem Verhör?«, sagte er, und Madeleine fragte sich, ob er etwas von ihrem Gespräch mitbekommen hatte.
Einen Moment lang sahen die beiden Männer sich schweigend an. Madeleine bemerkte verwundert die kalte, angespannte Atmosphäre zwischen ihnen.
»Wir haben uns nur unterhalten«, erklärte sie. Es war ihr unangenehm, hier von Ronsard mit Vardes
Weitere Kostenlose Bücher