Das Maedchen mit den Schmetterlingen
damals am See. Mein Gott, Sie haben es getan, Sie haben ihn umgebracht!«
Tess rappelte sich vom Boden auf und klammerte sich verzweifelt an Kate. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub, sie konnte sich kaum aufrecht halten. Sie verbarg ihr Gesicht in Kates Mantel und sah den Mann nicht an, der wie versteinert war und gehetzt in die Runde blickte.
Roberts, der Seniorchef der Kanzlei, der zusammen mit McCracken eingetroffen war, warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Was geht hier vor sich, Éamonn?«, sagte er, verblüfft und verärgert über den Tumult der sich in seinen Büroräumen abspielte.
McCracken öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch dann spürte er, dass es zwecklos war, wandte sich ab, hastete den Flur hinunter und verschwand in seinem Büro. Die Menschen, mit denen er seit dreißig Jahren zusammenarbeitete, sahen ihm fassungslos hinterher. Zwei Mitarbeiter folgten ihm ratlos.
Roberts brachte Kate und eine zitternde Tess in sein Büro, wo sie keiner hören konnte. Es hatte im Lauf der Jahre immer wieder Gerüchte unter den Mitarbeitern gegeben, dass McCracken mit der republikanischen Bewegung zu tun hatte. Solange er dadurch nicht mit seiner Arbeit in Konflikt geraten war - was nie der Fall gewesen war -, hatte Roberts sich taub gestellt. McCracken hatte mehr Klienten beschafft als jeder andere Rechtsanwalt, und vor vier Jahren hatten Roberts und seine Partner ihn in ihren Kreis geholt. Ein Teil der Klientel gehörte sicherlich nicht zu Roberts’ bevorzugtem Personenkreis, aber sie hatten alle ihre Rechnungen bezahlt, und Geschäft war Geschäft. Doch das hier war etwas anderes. Roberts hatte zwar keine Ahnung, worum es ging, aber er würde schon dahinterkommen.
Kate erzählte ihm alles, was sie wusste, während Tess starr und stumm neben ihr saß. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper und wandte sich ständig zur Tür, aus Angst, dass McCracken sich jeden Moment über sie hermachen könnte, schließlich hatte sie das Geheimnis verraten, das er ihr damals aufgezwungen hatte.
»Ich nehme an, Sie wollen sich an die Polizei wenden?«, erkundigte sich Roberts in der Hoffnung, seine Kanzlei aus der Sache heraushalten zu können. Allem Anschein nach hatte McCracken ein schreckliches Verbrechen begangen und diese junge Frau dafür büßen lassen.
Kate räusperte sich. »Das ist noch nicht alles«, sagte sie. »Ich glaube, er ist mein Vater.«
Tess fuhr entsetzt hoch, als hätte ihr jemand einen Eimer mit Wasser über den Kopf geschüttet. Hastig legte Kate beschwichtigend den Arm um ihre Schulter.
»Ich erkläre dir das alles später. Und dann besprechen wir auch, wie es weitergehen soll, einverstanden?«
Tess nickte, aber es war nicht zu übersehen, dass sie völlig verwirrt war.
Kate bat Mr. Roberts, sie gehen zu lassen, da Tess sich hier in der Kanzlei nicht beruhigen lassen würde. Er sei leider verpflichtet, die Polizei zu rufen, entschuldigte er sich, da es hier um ein Schwerverbrechen ging. Dann bestellte er für die beiden Schwestern Tee und Gebäck.
Nach einer nervenaufreibenden Wartezeit erschien die Polizei. Mit Hilfe von Tee und Gebäck hatte Tess sich so weit beruhigt, dass sie eine Aussage machen konnte. Nachdem auch Kate ausgesagt hatte, durften sie gehen, aber am nächsten Tag würde die Kriminalpolizei bei ihnen zu Hause vorsprechen.
Kate stand auf und legte schützend einen Arm um ihre Schwester, die bei der Berührung nicht einmal zuckte, und drängte sie zur Tür.
»Komm, Tess, wir fahren nach Hause.«
Als die Kriminalpolizei am nächsten Morgen in Wicklow vor der Tür stand, hatte Kate bereits ausführlich mit Tess gesprochen, die ihr die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten berichtet hatte. Die Beamten wollten sie aus Tess’ eigenem Mund hören, was Kate befürchtet hatte. Sie hätte ihrer Schwester gerne erspart, das Ganze noch einmal zu durchleiden. Sie setzten sich alle ins Wohnzimmer, und Kate versicherte ihr, dass sie das Geheimnis nicht mehr länger für sich behalten musste, dass ihr nichts geschehen konnte. Tess erzählte, dass sie im Morgengrauen hinunter zum See gegangen war, um Schmetterlinge zu beobachten, wie immer, wenn Kate böse mit ihr war. Sie fand ihren Vater schlafend am Ufer. Er stank nach Whiskey. Sie hätte ihn nicht aufgeweckt, versicherte sie den Polizisten, sondern einfach am Ufer gestanden und den schönen Stein betrachtet. Nach einer Weile war der
Mann mit dem abgebrochenen Zahn aufgetaucht, hatte sie gepackt und ihr Kleid
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