Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Kanzleimitarbeiter. Tess, die sich langweilte, lief unruhig an der Wand auf und ab und betrachtete sich neugierig die Fotos und Gemälde, während Kate sich erschöpft in einen weichen Sessel fallen ließ. Es war kalt draußen, aber die Sonne schien wärmend durch die hohen Fenster, und Kate überfiel eine bleierne Müdigkeit. Die Schwangerschaft erschöpfte
sie. Hin und wieder machte sie sich Sorgen, dass das Baby dieselbe Störung haben könnte wie Tess oder Ben, die möglicherweise ihre Mutter und nicht Michael Byrne vererbt hatte. Gedankenverloren schloss sie die Augen vor der grellen Sonne, da hörte sie Tess keuchen, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt. Kate öffnete die Augen und sah Tess gebannt auf ein Foto an der Wand starren.
»Was gibt’s, Tess?«, erkundigte sich Kate träge, zu müde um aufzustehen und selbst nachzusehen.
Tess deutete stumm auf das Foto. Ächzend erhob sich Kate, ihr Rücken schmerzte, und sie wünschte, sie hätte bequemere Schuhe angezogen. Erst, als sie näher trat, bemerkte sie Tess’ Entsetzen.
»Was ist denn los, Tess?«
Tess deutete immer noch stumm auf ein altes Foto mit lauter aufgeräumten Menschen, und als Kate genauer hinsah, merkte sie, dass Tess auf einen lächelnden Mann in der ersten Reihe zeigte.
Kate trat noch einen Schritt näher. Sie stand in einem ungünstigen Winkel zu dem Foto, auf dessen Oberfläche sich die Sonne spiegelte.
»Was ist denn los, Tess? Was ist daran so aufregend? Sag’s mir.«
Kate war beunruhigt. Tess wirkte vollkommen verstört.
»Das ist ein Geheimnis, Kate«, flüsterte sie ängstlich.
Tess’ Kinn zitterte, und Kate wusste, dass sie unmittelbar vor einem Zusammenbruch stand. Sie trat noch etwas dichter vor das Foto und hielt die Hände schützend um die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. Auf dem Foto, das vor dem Haus aufgenommen worden war, waren vielleicht acht Personen zu sehen. Sie waren im Stil der Siebzigerjahre gekleidet, mit buntgemusterten Blusen und Schlaghosen. Kate
betrachtete die einzelnen Gesichter und blieb schließlich bei dem Mann hängen, auf den Tess deutete.
Er hatte rote Haare und lachte über das ganze Gesicht, wobei er einen abgebrochenen Schneidezahn entblößte. Es war der Mann auf Tess’ Bildern. Sie drehte sich zu ihrer Schwester um. Tess kannte diesen Mann, aber woher?
»Wer ist das, Tess? Woher kennst du ihn? Bitte, bleib ganz ruhig.«
Tess hatte bereits begonnen, ihr Kleid zu befingern, und fuhr sich immer wieder übers Gesicht, als sei es schmutzig. Sie wischte sich die Hände am Kleid ab und schaukelte vor und zurück, wie immer, wenn sie sich bedroht fühlte. Kate war die Situation unangenehm. Eine Sekretärin kam vorbei und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Nach einer Weile erschien der junge Rechtsanwalt wieder und starrte Tess entgeistert an, die mittlerweile auf dem Boden saß, während Kate versuchte sie zu beruhigen.
»Tess, bitte, steh wieder auf, bitte, Tess! Keine Panik, wir gehen jetzt. Komm schon, steh auf, bitte. Lass uns gehen, Tess!«
Tess schien die Verzweiflung ihrer Schwester überhaupt nicht wahrzunehmen und wiegte sich jammernd hin und her.
Mittlerweile waren die Angestellten zusammengeströmt und starrten Tess an, deren Gejammer in ein schrilles Kreischen übergegangen war, das sie offensichtlich selbst nicht ertragen konnte und sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. Zwei Herren in dunklen Anzügen erschienen, von der verstörten Sekretärin alarmiert. Die Angestellten machten ihnen Platz, und Kate klar war, dass es sich um die Geschäftsführer oder vielleicht sogar die Inhaber der Kanzlei handelte.
Tess blickte auf und verlor vollkommen die Kontrolle.
»Ich sag’s nicht, ich sag’s nicht! Blut! Pssst, ein Geheimnis!
Ich sag’s nicht, ich sag’s nicht. Wie heißt deine Mutter? Nasse Schuhe!«
Sie wiederholte sich unentwegt, mit jeder Wiederholung wurde ihre Stimme schriller.
Kate drehte sich um und sah, dass einer der beiden Herren der Mann auf dem Foto war, der Mann, den Tess auf ihrem Bild als Insekt gemalt hatte. Neben Seán. Warum? Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Dieser Mann war ihr Vater!
»Ich wollte nur die Schmetterlinge beobachten, Kate!«
Kate hatte das Gefühl, als ob sich alles um sie herum in Zeitlupe abspielte. Ihr Herz raste, und ihr wurde schwindelig.
»Sie sind die Raupe, Sie waren da … Sie sind …«
Kate war sich bewusst, dass die Leute sie anstarrten. »Sie waren
Weitere Kostenlose Bücher