Das Maedchen mit den Schmetterlingen
kümmert sich keiner um sie.«
Kate war bestürzt und presste die Hand auf den Mund, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Das ist ja furchtbar. Das habe ich nicht gewusst … ich habe nicht … bitte, entschuldigen Sie!« Kate hastete zurück ins Wartezimmer. Ein lautes Schluchzen drang aus ihrer Kehle und hallte durch den leeren Flur. Sie hatte nicht gewusst, was ihre kleine Schwester hier durchgemacht hatte. Im Lauf der Jahre hatte sie verdrängt, dass Tess in dieser Anstalt lebte. Hatte sie womöglich nach ihr gerufen, zusammengekauert in einem kalten Korridor, und geweint wie dieses kleine Mädchen eben? Eine grauenhafte Vorstellung. Sie hatte immer vorgehabt, Tess zu fragen, wie es ihr ergangen war, aber aus lauter Furcht, dass sich ihre Befürchtungen bestätigten, hatte sie es unterlassen.
Sie entdeckte eine Toilette, wusch sich das Gesicht und
wartete, bis die Rötung ihrer Augen abgeklungen war. Tess wartete bereits vor Dr. Cosgroves Tür, der Kate für ein Gespräch unter vier Augen in sein Büro bat.
»Schön, dass wir uns endlich einmal kennenlernen, Mrs. …?«
Kate war es peinlich, dass dies die erste Begegnung mit dem Mann war, der sich so sehr um ihre Schwester bemüht hatte, und errötete. Was mochte er wohl von ihr halten?
»Miss … Miss Byrne … Kate«, sagte sie, während sie zögernd auf dem Stuhl Platz nahm, auf dem noch vor wenigen Minuten ihre Schwester gesessen hatte.
»Wie ist denn Ihr Eindruck? Wie hat Tess sich zu Hause eingelebt?«
Kate war um eine Antwort verlegen. Tess war Tess. Es gab gute Tage und schlechte Tage, aber die guten überwogen. Kate verstand in der Regel, was sie wollte, und manchmal wusste sie eher als Tess selbst, wenn ein Ausbruch bevorstand. Für Kate war das nicht länger ein Problem. Diese Vorfälle waren ein ganz normaler Bestandteil des Lebens ihrer Schwester. Und ihres eigenen Lebens auch.
»Gut«, war alles, was ihr einfiel, aber der Doktor schien mehr zu erwarten.
»Tess hat mir erzählt, dass jemand ihre Bilder kaufen möchte?«
»Ja.« Kate lächelte. »Eine Kunstgalerie in der Nähe. Du liebe Zeit, die werden sich wundern. Tess wird die Bilder wiederhaben wollen, kaum, dass sie sie abgeliefert hat.« Sie lachte und stellte fest, dass Cosgrove ebenfalls lachte. Sie senkte den Kopf. »Sagen sie, hat sie sich hier … wohl gefühlt? Ist es ihr …« Sie wusste nicht, wie sie die Frage zu Ende bringen sollte, wusste nicht, was sie hören wollte. »Ich habe sie nie besucht, weil ich … ich hab’s versucht … aber ich konnte einfach
nicht …« Sie suchte nach Worten und brach in Tränen aus. »Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, sie hierzulassen. Sie brauchte mich und hat mir vertraut, und ich habe nicht verhindert, dass man sie einfach abgeholt hat. Das werde ich mir niemals verzeihen. Ich war jung, und ich glaube, ich habe mir mehr Gedanken um meine geplatzte Hochzeit gemacht als um meine arme Schwester.«
»Sie hätten es ja gar nicht verhindern können. Die Indizien sprachen eindeutig dafür, dass sie ein Gewaltverbrechen begangen hat und Hilfe braucht.« Er legte eine Pause ein. »Glauben Sie denn, dass Tess Ihren Vater ermordet hat?« Er war froh, endlich mit jemandem reden zu können, der Tess gut kannte.
Kate wandte sich ab und schniefte. Er rechnete nicht mehr mit einer Antwort und überlegte, ob er das Thema wechseln sollte, da sagte sie endlich: »Er war sehr grob zu ihr, zu uns allen, aber eigentlich hat er sie überhaupt nicht beachtet. Sie war ihm unangenehm, wegen ihrer seltsamen Art. Es ist merkwürdig, aber ein paar Tage, bevor er umgebracht wurde, hat sie mich gefragt, wann er stirbt. Seit dem Tod unserer Mutter hat er hemmungslos getrunken und viel Unfrieden im Haus gestiftet.«
Kate schwieg. Sie war sich bewusst, dass Dr. Cosgrove sie genau beobachtete, ihren Wimpernschlag, ihre Körpersprache, jede einzelne Bewegung.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, erinnerte er sie freundlich, aber direkt.
»Nein, ich habe nie geglaubt, dass sie es getan hat.«
Beim Abschied sagte Dr. Cosgrove zu Tess, dass sie vermutlich nicht mehr in seine Sprechstunde kommen müsste, aber wenn sie irgendwelche Probleme hätte, dann sollte sie ihn anrufen. Er gab ihr eine Visitenkarte mit seiner Durchwahl.
Diese junge Frau hatte etwas sehr Verletzliches, er hätte sie am liebsten umarmt, aber er reichte ihr nur die Hand, die sie flüchtig ergriff.
Dann lief sie den Korridor hinunter, drehte sich noch einmal um und winkte ihm zu. Mit
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