Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Kate schritt sie durch das riesige Gebäude, das ihr so vertraut war. Kate hatte gedacht, dass Tess das Wiedersehen verstören würde, aber es schien ihr nichts auszumachen, sie war nur ein wenig stiller als sonst. Umso verblüffter war Kate, als Tess plötzlich mit einem Freudenschrei auf einen Schwarzen zustürzte, der gerade dabei war, einen Korridor zu wischen.
»Leroy!«, jubelte Tess.
Leroy, der genauso erfreut schien, wirbelte Tess wie eine Stoffpuppe durch die Luft. Kate war sprachlos. Noch nie hatte sie Tess jemanden so stürmisch umarmen sehen.
Leroy setzte Tess wieder ab, und sie strahlten sich an.
»Leroy, das ist meine Schwester«, sagte Tess.
Kate kam näher und reichte Leroy die Hand.
»Ich bin Kate, freut mich, dich kennenzulernen. Tess hat mir viel von dir erzählt.« Aber offenbar nicht alles, dachte sie im Stillen.
Leroy erwiderte Kates Lächeln. Er wusste oder ahnte wohl, was sie dachte.
»Ich bin Declan«, stellte er sich vor. »Tess nennt mich Leroy. Das … das war mal mein Spitzname.«
Kate schwieg verwirrt.
Leroy begleitete sie zum Ausgang, und Kate ließ die beiden eine Weile allein, damit sie ungestört plaudern konnten. Sie trat ins Freie, konnte Leroy und Tess aber durch die Glastüren beobachten. Das lebhafte Gespräch schien ein wenig ins Stocken zu geraten, und sie saßen da und lächelten sich an. Tess wirkte glücklich. Als Kate schließlich wieder hineinging,
stand Tess abrupt auf und ließ Leroy einfach sitzen, den das merkwürdige Verhalten seiner Freundin aber nicht zu stören schien. Es war beinahe Mittagszeit, und Tess hatte Hunger. Leroy schmunzelte, als Kate sie an ihre guten Manieren erinnerte. Als er sie zum Abschied in den Arm nehmen wollte, wich sie ihm aus, die Freude über das Wiedersehen war bereits merklich abgeflaut.
»Ich schreibe dir«, sagte Leroy.
»Wann?« Tess musste genau wissen, wann sie mit einem Brief im Briefkasten rechnen konnte.
Leroy lachte. »Am Freitag. Dann kann ich dir erzählen, was die Woche über alles passiert ist.«
Tess nickte und merkte sich den Brief für Montag vor. Dann ließ sie ihren Freund, der an ihre Eigenheiten gewöhnt war, stehen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie hatten noch genügend Zeit und schlenderten langsam zurück ins Stadtzentrum. Kate hoffte, dass sie unterwegs vielleicht etwas besprechen konnte, was ihr schon lange auf dem Herzen lag, was sie endlich wissen musste.
»Tess, es war schrecklich hier … in der Klinik, nicht wahr? Bitte, sei ehrlich.«
Tess dachte einen Augenblick nach, dann antwortete sie. »Ich musste ein paar Kinder beißen, weil sie meine Sachen angefasst haben.«
Kate musterte Tess misstrauisch. Wollte sie die Sache herunterspielen? Aber ihre Miene verriet, dass sie es absolut ehrlich gemeint hatte.
Kate schmunzelte. »Hast du fest zugebissen?« lachte sie.
»Ja. So fest ich konnte.«
Lachend liefen sie Seite an Seite zum Quai hinunter. Kate ahnte nicht, dass Tess ihr verschwiegen hatte, wie belastend die Zeit für sie gewesen war. Aber das spielte jetzt keine Rolle
mehr. Sie waren zusammen, und es gab keine Kinder mehr, die man beißen musste, keinen Michael Byrne und auch keine zweiköpfige Raupe.
Simon McCarthy arbeitete erst seit Kurzem in der Anwaltskanzlei, und Kate erklärte ihm gerade, warum sie gekommen war. Sie hatte Seáns Totenschein dabei, ebenso ihren Personalausweis und den von Tess, die nervös auf dem Stuhl neben ihr saß. Kate hatte sich schon oft gefragt, warum ihre Mutter ausgerechnet von dieser Kanzlei eine Visitenkarte in der Handtasche gehabt hatte. Diese Karte hatte Seán damals überhaupt erst hierhergeführt. Sie musterte das vornehme Büro, ihre Mutter hätte sich hier bestimmt nicht wohl gefühlt, und ihre Familie hatte eigentlich nie einen anderen Anwalt gehabt als den in Knockbeg. Hier in der Kanzlei in Dublin war ihre Mutter völlig unbekannt, wie Séan erfahren hatte, und sie hatte der Kanzlei auch nie einen Auftrag erteilt. Es war und blieb ein Rätsel.
Der höfliche junge Mann sagte, dass er Tess’ Unterschrift unter die Besitzurkunden benötigte, die vom Grundbuchamt auf ihren Namen geändert worden waren, als ihr Vater gestorben war und man ihren Bruder als gesetzlichen Vormund eingesetzt hatte. Er bat die beiden Schwestern, ihm zu folgen, und ging einen langen Flur entlang, um die Urkunden aus dem Tresorraum zu holen. Am Ende des Flurs ließ er sie im Wartebereich Platz nehmen. Die Wände schmückten Fotos langjähriger
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