Das Maedchen mit den Schmetterlingen
sie nach einer Antwort suchte.
»Er wollte nicht. Nachdem Daddy tot war, ist er hier nicht mehr aufgetaucht«, erwiderte sie schlicht.
Tess beobachtete ungerührt, wie ihre Schwester mit Erinnerungen kämpfte, die immer noch schmerzlich waren.
»Wo ist Noel?«
Mein Gott, konnte das Mädchen denn keine Ruhe geben? Kate hatte nicht damit gerechnet, dass Tess immer noch so einfältig war.
»Er wohnt immer noch in Árd Glen, Tess. Er hat Marion Hynes geheiratet, aber sie hat ihn vor ein paar Jahren verlassen und ist mit den beiden Kindern nach England gezogen.«
Betrübt musste Kate feststellen, dass ihr Noel Moores Probleme keinerlei Genugtuung verschafften. Sie verachtete sich, weil er ihr leidtat. Sie hatte gehört, dass er sich hinter seiner Arbeit auf der Farm verschanzte und eigentlich nur zum Einkaufen ins Dorf kam. Gelegentlich sah sie ihn mit seiner Mutter in der Messe, achtete aber jedes Mal sorgfältig darauf, vor ihm die Kirche zu verlassen. Selbst nach so langer Zeit hätte sie seinen mitleidigen Blick, wie damals auf der Beerdigung ihres Vaters, nicht ertragen. Kate wollte kein Mitleid, von niemandem. Außerdem hatte Noel sich letzten Endes als Feigling erwiesen und ihr gemeinsames Glück dem Ruf seiner Familie geopfert. Jetzt standen sie beide alleine da. Kate wandte sich wieder Tess zu. Was mochte sie wohl denken? Doch ihre Schwester ließ mit ausdrucksloser Miene den Blick auf ihr ruhen und nickte.
»Warst du traurig, Kate?«
»Ja«, erwiderte Kate, der unwillkürlich die Tränen kamen.
Tess stand in der Küche, nickte nachdenklich und verarbeitete Kates Worte. Dann ging sie wieder in ihr Zimmer, um zu malen.
Sam Moran hatte sich bis auf wenige Meter ans Haus der Byrnes geschlichen und beobachtete, wie Dermot Lynch den verbeulten Lieferwagen zum Tor hinaus in Richtung Dorf lenkte. Vorhin schon hatte er Seán Byrne im Slattery’s entdeckt, der mit Sicherheit erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückkommen
würde. Als Sam noch näher trat, hörte er von drinnen ein Summen und warf einen raschen Blick durch das Küchenfenster. Auf dem Küchenfußboden kauerte ein Junge, der lachend hin- und herschaukelte und ununterbrochen mit den Fingern vor den Augen herumfuchtelte.
Sam klopfte kräftig an die Haustür, bis ihm schließlich von einer nervösen Kate Byrne geöffnet wurde.
»Ja?«
Er setzte sein gewinnendes Lächeln auf, das ihm normalerweise jede Tür öffnete, doch schon auf den ersten Blick war ihm klar, dass sein Charme bei dieser Frau wirkungslos verpuffen würde.
»Guten Tag, Miss. Ich bin Sam Moran von der Weekly News . Ich habe gehört, dass Ihre Schwester wieder nach Hause gekommen ist und …«
Noch bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Dieser Auftrag versprach zäher zu werden als gedacht.
Sam stand alleine am Tresen im Slattery’s. Es war noch nicht viel los, lediglich ein paar hartgesottene Säufer saßen abseits im Hinterzimmer. Er winkte Dermot heran, dessen übliche Samstagabendschicht gerade angefangen hatte.
»Dermot, Sie arbeiten doch für die Byrnes, richtig?«
»Ja.«
Sam seufzte. Noch so ein begnadeter Erzähler, dachte er. »Wie ist es denn dort so … die Familie meine ich.«
»Alles gut.«
Uff. »Wie läuft es mit dem Mädchen? Du weißt schon, die wieder nach Hause gekommen ist?« Sam lächelte dem missmutigen Barkeeper aufmunternd zu.
»Alles gut.« Dermot musterte Moran argwöhnisch. Er wollte
gegenüber den Gästen seiner Tante nicht unhöflich sein, aber an irgendwelchem Dorfklatsch würde er sich ganz bestimmt nicht beteiligen.
»Ist sie, Sie wissen schon … verrückt?«
»Nein, ist sie nicht, und selbst wenn, dann würde Sie das nichts angehen, genauso wenig wie mich im Übrigen. Also, wollen Sie jetzt was trinken oder nicht?«
»Noch mal dasselbe.« Sam seufzte.
Er war daran gewöhnt, dass die Leute ihn abblitzen ließen. Er musste sich eben eine andere Strategie zurechtlegen, um zu seiner Geschichte zu kommen.
Kate war erschöpft. Tess erwies sich als überaus anstrengend. Den ganzen Tag lief sie ihr hinterher und stellte Fragen, versuchte, die Lücken zu schließen, die die letzten zehn Jahre hinterlassen hatten. In dieser Woche hatte Kate ihre kleine Schwester zweimal vor Seáns Bett stehen sehen. Sie hatte ihn angestarrt, während er seinen Rausch ausschlief, und aus irgendeinem Grund war Kate bei diesem Anblick jedes Mal das Blut in den Adern gefroren. Kaum hatte Tess morgens die
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