Das Maedchen mit den Schmetterlingen
offenes Geheimnis, dass er und sein Vater sich nicht grün gewesen waren, aber alle sagten, was sie sagen mussten, und so musste Seán in den beiden Geschäften, wo er für Kate Besorgungen zu erledigen hatte, ihr Mitleid über sich ergehen lassen. Die Leute verdrehten die Köpfe, wenn er vorbeilief, und blickten von ihrer Arbeit auf. Manche tippten sich an den Hut und nickten. Die Frauen waren am schlimmsten. Sie drückten seine Hand und bedauerten tränenreich seinen Verlust. Aber was hatte er schon verloren? Michael Byrne hatte ihn und seine Geschwister, ganz besonders aber seine arme Mutter, ein Leben lang nur tyrannisiert.
Der einzig wirkliche Verlust, der durch seinen Tod entstanden war, bestand in Kates geplatzter Verlobung. Noel Moore hatte nicht einmal den Anstand besessen, es ihr ins Gesicht zu sagen, und war nach der Beerdigung einfach nicht mehr aufgetaucht. Feigling. Kate hatte kein Wort gesagt, hatte bis zum Schluss Haltung bewahrt, aber nachts hatte er sie weinen hören. Auf der Rückfahrt zum Hof fiel ihm Tess ein. Wie es ihr wohl gehen mochte? Er wusste, wie sehr sie sich in einer fremden Umgebung fürchtete. Sein Verhältnis zu seiner jüngeren Schwester war zwar nie besonders eng gewesen, aber sie tat ihm trotzdem leid. Ein dicker Kloß ballte sich in seiner Kehle zusammen. Er hätte sie gerne besucht, aber fürchtete sich vor ihrem starren, anklagenden und flehenden Blick. Er wollte noch ein bisschen warten, bis sie sich eingelebt hatte.
Zu Hause war Kate gerade dabei, Ben zum Mittagsschlaf hinzulegen. Auch sie war mit ihren Gedanken bei Tess. Um diese Zeit hatte sie ihr immer ihr Mittagessen gekocht, die restliche Familie aß später, aber Tess brauchte ihre immer gleichen Mahlzeiten jeden Tag zur gleichen Zeit: zwei Scheiben selbst gebackenes, braunes Brot mit Käse, ohne Butter, dazu eine Tasse Tee ohne Milch.
Kate vermisste ihre seltsame Schwester sehr. Tess war das einzige weibliche Wesen, das ihr nach der Erkrankung ihrer Mutter geblieben war, als sie kaum mehr Zeit für ihre Freundinnen hatte. Ihrem Vater, der jetzt in seinem Grab vermoderte, weinte sie keine Träne nach.
Kate setzte sich, die Hände um eine heiße Tasse Tee gelegt. Es war noch Sommer, aber sie fröstelte. Seit der Beerdigung hatte sie sich nicht mehr aus dem Haus getraut. Sie hätte die Neugier der Leute nicht ertragen: Ob sie Tess verdächtigte, ob sie es hatte kommen sehen. Zwei Zeitungen hatten ihre Reporter
aus Dublin geschickt, die sie mit Hilfe der Polizei vom Hof verjagen musste. Wenigstens respektierte die Lokalzeitung ihr Privatleben und brachte nichts über den Mord, aber das war auch nicht nötig. Es wurde ohnehin überall darüber geredet. Sie schüttelte den Kopf, versuchte, nicht an Tess zu denken, die einsam und verängstigt in einer fremden Umgebung lebte. Jede Nacht weinte sie sich in ihrem Zimmer, das sie mit Tess geteilt hatte, die Augen aus und grübelte, ob es ihrer Schwester gut ging. Falls Tess tatsächlich den Mord begangen hatte, was konnte sie dazu veranlasst haben? Hatte sie ihnen allen etwa einen Gefallen tun wollen? Erneut schüttelte Kate den Kopf. Nein, sie konnte nicht glauben, dass Tess zu einer derart abscheulichen Tat fähig war. Irgendjemand hatte ihren Vater umgebracht, aber wer? Und warum? Sie schämte sich, dass sie im Stillen Séan verdächtigte. Nur widerwillig hatte sie der Polizei vorgelogen, dass sie zur fraglichen Zeit zusammen gewesen waren, und wunderte sich, warum Seán nicht einfach sagen wollte, dass er bei einem kranken Kalb im Stall geblieben war. Trotzdem hatte sie seiner Bitte entsprochen und fragte sich, ob sie es später vielleicht einmal bereuen würde. Es war alles so unbegreiflich und verworren.
Verblüfft stellte Kate fest, dass sie kaum noch an Noel Moore dachte. Er hatte sie im Stich gelassen, als sie ihn gebraucht hatte, und sie verschloss ihr Herz. In Zukunft würde es nur noch Seán und sie geben, sie würden sich um Ben kümmern müssen und beide unverheiratet bleiben. Dieser Gedanke machte Kate weder traurig noch niedergeschlagen, es hatte sich eben so ergeben. Und sie sah ein, dass es klüger war, ihr Schicksal zu akzeptieren, als es zu bekämpfen, denn sie war vollkommen machtlos.
Tess lebte schon eine ganze Weile in der Klinik, und weder ihre Schwester noch ihr Bruder hatten sie besucht. Tess glaubte, dass sie tot waren, aber Dr. Cosgrove behauptete immer wieder, dass es ihnen gut ging, dass sie nur zu viel Arbeit auf dem Hof hatten und
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