Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Hauptstraße betrat er die Stammkneipe seines »Vaters«.
»Seán!«, rief Mattie Slattery. »Ich dachte, du trinkst nichts?«
»Heute Abend schon«, lautete die Antwort des Gepeinigten.
Seán saß so unauffällig wie möglich an der Theke und bestellte noch ein Bier. Er war verblüfft über die Wendung, die sein Leben innerhalb weniger Stunden genommen hatte. Bis vorhin hatte er noch gedacht, er sei Eigentümer eines Bauernhofs und Michael Byrne sein Vater. Bis heute war seine Schwester Kate seine engste Vertraute auf dieser Welt gewesen, und jetzt war er dahintergekommen, dass sie ihn die ganze Zeit belogen hatte. Zumindest hatte sie ihm nicht die Wahrheit gesagt, was für ihn auf dasselbe hinauslief. Außerdem hatte er seine Mutter immer vergöttert, und jetzt stellte sich heraus, dass sie gar nicht die Heilige war, für die er sie immer gehalten hatte. Sie war eine Hure, zumindest was ihn betraf. Und außerdem war er bis heute Abstinenzler gewesen und hatte zur grenzenlosen Erleichterung seiner Mutter geschworen, niemals einen Tropfen Alkohol anzurühren.
Seán blickte sich um und sah seinen Onkel und seinen Cousin in einer Ecke sitzen und flüstern. Sie beobachteten ihn, aber er beschloss sie zu ignorieren, obwohl es ihm schwerfiel.
Er hatte so viele Fragen, die sein Onkel Jimmy, das wusste er, ihm beantworten konnte, aber niemals beantworten würde.
Seán winkte Mattie Slattery zu sich.
»Mattie, ich hab gerade an die Beerdigung meiner Mutter gedacht«, sagte er leise und so beiläufig wie möglich. »Da war eine Frau, die ich nicht kannte. Klein, ein bisschen mollig, braune Haare. Du weißt nicht zufällig, wer das war, oder?«
»Hmm, nein. Keine Ahnung.«
Noch bevor Seán gespielt gleichgültig mit den Schultern zucken konnte, wandte Mattie sich mit lauter Stimme an einen Gast am anderen Ende der Theke.
»Frank, du warst doch auf der Beerdigung von Maura Byrne, oder?«
»Richtig«, bestätigte der Mann mittleren Alters. »Ich hab deine Mutter gut gekannt, mein Junge. Gott hab sie selig. Möchtest du vielleicht etwas Bestimmtes wissen?«
Seán wand sich auf seinem Barhocker und spürte den bohrenden Blick seines Onkels im Nacken. Er war selber nicht auf ein Gespräch mit Frank Ryan erpicht, der als das übelste Schandmaul des ganzen Dorfes galt. Die unauffällige kleine Nachfrage kannst du vergessen, dachte er, während Ryan ihn aufmerksam musterte.
»Ach, nichts Besonderes. Ich hab auf dem Weg ins Dorf bloß an die Beerdigung gedacht. Da ist mir eine Frau eingefallen, die ich nicht kenne. Ich dachte, dass Mattie vielleicht weiß, wer das war, mehr nicht. Nicht weiter wichtig.« Er schluckte.
Mittlerweile fühlten sich ein paar Neugierige bemüßigt, ihre Meinung zum Besten zu geben.
»Klein, hast du gesagt, und dick?«, ertönte eine Stimme aus dem kleinen Nebenzimmer. »Tja, wer könnte das gewesen sein?«
»Na klar, war das nicht Dan Whelans Frau aus Knockbeg?«, meinte ein anderer. »Passt doch genau.«
»Nein«, erwiderte Ryan. Er wollte sein Publikum noch ein bisschen zappeln lassen und die Sache in die Länge ziehen. »Das klingt eher nach diesem Mädchen, mit dem Maura früher befreundet war. Ich wette, dass ich die auf der Beerdigung gesehen habe. Sie selber stammt zwar nicht von hier, aber ihre Mutter ist aus der Gegend, und sie hat manchmal die Ferien hier verbracht. Hmm, wie war noch mal gleich ihr Name?« Ryan steckte die Pfeife in den Mund und kaute auf dem Mundstück herum. Hoffentlich kam ihm niemand zuvor.
Jimmy Kelly rutschte unruhig auf seinem Hocker hin und her. Er wusste, dass mehr hinter der Frage seines Neffen steckte.
Nach einem fast unerträglich langen Schweigen nahm Frank Ryan die Pfeife wieder aus dem Mund. Niemand hatte ein Wort gesagt, weil alle wussten, dass Frank nicht besonders erfreut gewesen wäre, wenn ihm jemand die Show gestohlen hätte.
»Brigid, genau, so heißt sie. Wohnt in Dublin. Ach Gott, der Nachname will mir im Moment einfach nicht einfallen. Er liegt mir auf der Zunge. Hat irgendwie einen komischen Klang, aus dem Norden, glaub ich. Na ja, was soll’s!« Ryan versagte nur äußerst ungern.
»Hat sie noch Angehörige hier in der Gegend?«, erkundigte sich Seán und versuchte immer noch, nicht allzu wissbegierig zu wirken.
»Nein. Der Jüngste hat eine Weile versucht, den Hof weiterzuführen, aber dann hat er aufgegeben und ist nach London gegangen. Doyle, vielleicht? Nein. Der Boden dort war miserabel. Das Haus ist mittlerweile verfallen.
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