Das Maedchen mit den Schmetterlingen
irgendwelche Listen schreibst. Kannst du mir sagen, worum es dabei geht?«
»Geheimnisse.«
»Oh, Geheimnisse. Richtig. Vertraust du mir, Tess?«
»Ja.«
»Kannst du mir verraten, was die Listen zu bedeuten haben? Ich verspreche dir, ich verrate es niemandem. Ärzte dürfen die Geheimnisse ihrer Patienten auf keinen Fall weitersagen.«
Cosgrove sprach langsam und gleichmäßig und machte hinter jedem Satz eine kleine Pause, damit Tess seine Worte verarbeiten konnte.
Jetzt wandte sie den Kopf zur Seite, sah an Cosgrove vorbei und dachte nach.
»Es geht ums Entschuldigen.«
»Oh. Gibt es denn Menschen, die sich bei dir entschuldigen müssen?«
Keine Antwort.
»Tess, diese Menschen auf deiner Liste, sind das Menschen, die dir etwas angetan haben, etwas Schlimmes?«
Tess schnipste mit den Fingern, und das Knacken hallte im nackten Flur wider.
»Man muss sich entschuldigen«, sagte sie nur.
»Wer, Tess? Wer muss sich entschuldigen?«
»Haben Sie gewusst, dass es auf der Welt über hunderttausend verschiedene Schmetterlinge und Falter gibt?«
Cosgrove seufzte. Er kannte Tess mittlerweile recht gut, und jedes Mal, wenn er in die Nähe der Wahrheit vorgedrungen war, lenkte sie ab. Außerdem hatte er gelernt, dass es in diesem Fall keinen Zweck hatte nachzuhaken, da ihr Vertrauensverhältnis sonst um Wochen zurückgeworfen wurde.
»Nein, Tess, das habe ich nicht gewusst. Na, komm, ich bringe dich zurück in den Unterricht.«
Er musste es ein andermal versuchen.
Seán wartete, bis Kate Ben zu Bett gebracht hatte, bevor er ihr von dem Testament berichtete. Mittlerweile hatte er begriffen, dass Tess und Ben, wenn Michael nicht sein Vater war, auch nicht seine richtigen Geschwister waren, obwohl das wahrscheinlich keine große Rolle spielte, denn schließlich waren sie die Kinder seiner Mutter. Als Kate die Küche betrat, sah sie ihn erwartungsvoll an. Für sie war er schon immer ein offenes Buch gewesen.
»Ich war bei Brown & Son«, sagte er, »aber dort war das Testament nicht.«
»Was? Wo denn sonst?«
»In Dublin.«
Die Sache mit der Vaterschaft sparte Séan sich bis zum Schluss auf. Kate sagte keinen Ton. Er hatte damit gerechnet, dass sie ruhig blieb, sie blieb immer ruhig, aber irgendetwas in ihrer Miene machte ihn stutzig.
»Du hast es gewusst!«, zischte er.
Kate senkte den Kopf.
»Das mit mir nicht. Ich habe wirklich geglaubt, dass er mein Vater ist … das hat sie mir nie verraten.«
»Aber du hast die ganze Zeit gewusst, dass Michael Byrne nicht mein Vater ist, und du hast es mir verheimlicht.«
»Ich konnte nicht, Seán. Ich musste es Mom versprechen. Sie meinte, es spielt keine Rolle. Sie wollte nicht, dass du schlecht von ihr denkst.«
»Schlecht von ihr denken? Ich bin ein Bastard, du bist ein Bastard. Ich habe nicht die geringste Chance mehr, mir etwas Eigenes aufzubauen. Der Hof gehört Tess! Warum sollte ich wohl schlecht von ihr denken?«
»Das mit dem Testament konnte sie nicht wissen. Woher auch? Sie ist all die Jahre über bei ihm geblieben, nur, um dir und mir eine Zukunft zu sichern. Sie hat uns geliebt. Sie hat ihr eigenes Glück geopfert, für uns, Seán.«
Seán hätte nicht gedacht, dass dieser Tag noch grauenhafter werden konnte, doch die Erkenntnis, dass seine Schwester es all die Jahre über gewusst hatte, ohne etwas zu sagen, war ein Betrug, den er nicht ertragen konnte. Wütend starrte er sie an. Seine Halsschlagadern schwollen an, und er ballte die Fäuste, ließ sie krachend auf den alten Küchentisch donnern, sodass Kate vor Schreck zusammenzuckte.
Dann holte er tief Luft und versuchte sich zu sammeln.
»Wer ist unser Vater, Kate? Bitte, sag es mir.«
»Ich kenne bloß seinen Vornamen. Éamonn. Er hat sie sitzen lassen. Mehr weiß ich nicht, Seán. Ich schwöre!«
»Wo hat er gelebt, Kate? Wie hat sie ihn kennengelernt?«
»Ich weiß es nicht, Seán, ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Sie hat es mir nie gesagt. Sie hat sich immer schrecklich aufgeregt, wenn die Sprache darauf kam. Sie wollte nicht, dass
ich die gleichen Fehler mache wie sie. Deshalb hat sie es mir erzählt. Mehr weiß ich auch nicht.«
Seán brauchte frische Luft, er nahm seinen Mantel und lief den dunklen Pfad hinunter, der zur Dublin Road führte.
Kate lief ihm nach. »Seán, wo willst du denn hin?«
»Geh wieder rein, und lass mich in Ruhe. Ich muss nachdenken. Alles hat sich verändert, Kate, alles!«
Seán Byrne lief in der Dunkelheit den ganzen Weg bis ins Dorf. Auf der
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