Das Maedchen mit den Schmetterlingen
andere Menschen zu beißen, also musste sie ihrem Zuhause jetzt schon sechsundneunzig Schritte näher gekommen sein. Sie wusste nicht, wie viele Schritte es bis nach Hause waren, aber sechsundneunzig klang ganz beachtlich. Tess konnte keine Aufsätze schreiben, aber sie konnte gut malen, was ja eigentlich auch eine Form von Erzählen war. Sie fragte sich, warum man ihr nicht erlaubte, ihre Geschichte zu zeichnen. Die passenden Wörter fielen ihr niemals ein, auch wenn sie sich noch so anstrengte. Sie saß an ihrem Tisch am hinteren Ende des Klassenzimmers und schlug sich zweimal mit der flachen Hand ins
Gesicht, in der Hoffnung, dass ihr die richtigen Wörter einfielen, aber es war zwecklos. Seufzend setzte sie den Stift aufs Papier, während die Lehrerin sie misstrauisch beäugte.
MEINE DREI WÜNSCHE
Nach Hause gehen
Ein fröhliches Gesicht für Seán und Kate
Eine Stimme für Ben
Als die Lehrerin an Tess’ Platz kam, um ihren Aufsatz zu lesen, machte sie sich nicht die Mühe, Tess zu fragen, warum sie keine vollständigen Sätze geschrieben hatte, sondern seufzte nur laut. »Noch eine Liste, Tess?« Mit diesen Worten kehrte sie ihrer widerspenstigsten Schülerin den Rücken zu.
Langsam fuhr Seán zurück nach Árd Glen. Er hatte nur einen einzigen Gedanken: Kate zu sagen, dass Michael Byrne nicht ihr Vater war. In gewisser Weise hatte er das immer schon gewusst und nur nicht gewagt, sich der Tatsache zu stellen, dass seine Mutter ihrem Ehemann untreu gewesen war, egal, was für ein Mensch Michael Byrne gewesen war. Seine Mutter hatte immer so anständig gewirkt, und es fiel ihm schwer zu glauben, dass sie ihren Mann auch nach der Heirat noch betrogen hatte. Seán hatte sich ausgerechnet, dass Maura bei der Hochzeit bereits mit ihm schwanger gewesen war, aber dann war es noch einmal passiert. Von wem? Wer war sein und Kates Vater? Warum hatte er ihre Mutter nicht geheiratet und sie vor dem qualvollen Leben mit Michael Byrne bewahrt? Wie hatte seine Mutter es überhaupt angestellt, ein Verhältnis mit einem anderen Mann zu haben? Soweit Seán sich erinnern konnte,
war sie nur selten ausgegangen. Zum Einkaufen ins Dorf und manchmal sonntags zur Messe, aber ansonsten war sie eigentlich nie alleine unterwegs gewesen. Das war alles mehr als rätselhaft. Da seine Großeltern schon gestorben waren, konnte er sie nicht mehr befragen. Und seinen Onkel Jimmy würde er ganz bestimmt nicht darauf ansprechen, nachdem dieser ihn bei der Polizei mit Michael Byrnes Tod in Verbindung gebracht hatte. Da fiel ihm ein, dass er auf der Beerdigung seiner Mutter eine ihm unbekannte Frau gesehen hatte. Sie hatte geweint, und ein paar Dorfbewohner schienen sie auch gekannt zu haben, doch er hatte sich nie nach ihrem Namen erkundigt. Sie hatte ihm immer wieder verstohlen einen Blick zugeworfen, ihn aber nicht angesprochen. Vielleicht wusste jemand im Dorf, wer sie war. Seine Neugier würde jedenfalls kein unnötiges Misstrauen erregen. Außerdem war da noch die Sache mit dem Testament. Wenn der letzte Entwurf ungültig war, dann war Tess die rechtmäßige Eigentümerin des Hofes, und Seán konnte nur ein Gehalt als Geschäftsführer beziehen. Er musste sich mit Kate besprechen. Sie wusste bestimmt, was zu tun war.
Dr. Cosgrove stand zusammen mit Tess im obersten Stockwerk der Anstalt, und sie blickten gemeinsam über die Dächer der Stadt. Er hatte das Gefühl, dass sie mehr von sich preisgab, wenn die Sitzungen weniger förmlich abliefen. Sie setzten sich ans Ende des Flurs und begannen zu zeichnen, das heißt, Cosgrove tat so, als würde er zeichnen.
Das Mädchen hat Talent, dachte er, während er ihr dabei zusah, wie sie wieder einmal ein Bild ihres »Schmetterlings-Sees« anfertigte. Auf diesen Bildern stand immer eine kleine Gestalt am Ufer, eindeutig sie selbst, und dazu etliche groteske Insekten mit menschlichen Gesichtern. Die Bilder wirkten
surreal, faszinierend - und erschreckend. Cosgrove vermutete, dass diese Seebilder irgendetwas mit dem Tod ihres Vaters zu tun hatten und dass er, wenn er sie dazu bewegen konnte, darüber zu sprechen, einen entscheidenden Durchbruch geschafft hatte. Aber Tess weigerte sich standhaft, auch nur ein einziges Wort zu ihren Bildern und Gemälden vom See zu sagen.
»Was sind das für Insekten, Tess? Ich würde sagen, es sind Raupen, oder?«
Nichts.
Cosgrove unterdrückte einen Seufzer und setzte noch einmal neu an.
»Tess, ich habe gehört, dass du fast jeden Tag
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