Das Maedchen mit den Schmetterlingen
richtigen Mördern zu tun bekam. Und jedes Mal hatte er das Gefühl gehabt, dass sie unschuldig war, aber da er mittlerweile zu viel zu verlieren hatte, hielt er auch weiterhin den Mund. Außerdem sprachen so viele Indizien gegen sie, was hätte er also sagen sollen? Ich habe das dumpfe Gefühl, ein Ziehen im Darm? Man hätte ihn einfach ausgelacht. Es war nicht die einzige Unredlichkeit, die er sich im Lauf seiner Karriere bei der Polizei geleistet hatte, aber Drogendealer zu schikanieren konnte man ja nicht ernsthaft als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen.
Sam holte Flynn aus seinen Erinnerungen zurück in die Gegenwart.
»Dann waren Sie also an der Festnahme gar nicht beteiligt?«
»Nein. Wie gesagt, ich war damals noch grün hinter den Ohren. Die beiden hauptverantwortlichen Kollegen sind beide schon gestorben. Tut mir leid, aber Sie haben die Fahrt
umsonst gemacht.« Flynn sah betont auffällig auf seine Armbanduhr.
Sam wusste, dass er vor die Tür gesetzt werden sollte, aber er wollte nicht gehen, ohne Flynn wenigstens ein bisschen zu ärgern. Er stand auf.
»Eigentlich komisch, wissen Sie. Der Ortspolizist, der konnte sich ganz gut an Sie erinnern und hat gemeint, Sie hätten durchaus was zu sagen gehabt damals. Dass Sie der Neffe von irgendjemandem waren oder so. Aber wie dem auch sei, ich schätze mal, Sie sind nur ungern der einzige Überlebende, der ein unschuldiges Mädchen für die besten Jahre ihres Lebens in eine Anstalt gebracht hat, oder?« Er sah, wie Flynn errötete, und ging zur Tür. Er hatte einen Nerv getroffen. Flynn hatte immer gewusst, dass das Mädchen unschuldig war, und keinen Finger gerührt.
Sam war müde. Noch nie hatte er es mit einer Geschichte zu tun gehabt, die so oft die Richtung wechselte. Anfangs hatte ihm der in der Blüte seines Lebens Ermordete leidgetan, dann der Sohn, enterbt und kurz vor dem Ruin, und das nur, weil der Alte nicht sein leiblicher Vater war. Und jetzt bedauerte er das Mädchen. Irgendjemand hatte ihr was angehängt oder zumindest nicht verhindert, dass ihr ein Verbrechen angelastet wurde, das sie gar nicht begangen hatte.
»Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben«, sagte er und warf die Bürotür hinter sich zu. Die Polizisten, die im Vorzimmer an ihren Schreibtischen saßen, fuhren zusammen. »Tut mir leid, Leute«, grinste er. »Ein bisschen zu viel Schwung gehabt. Einen schönen Tag noch!« Er stammte aus einer Familie von Straßenhändlern und war kein Freund der Polizei.
Seán erwachte aus einem unruhigen Schlaf und stellte fest, dass seine kleine Schwester wieder einmal direkt vor seinem Bett stand.
»Was … was willst du hier, du verfluchte Hexe?«, fauchte er sie an.
Tess erschrak, rannte aus dem Zimmer und versteckte sich unter ihrem Bett. Er ließ sich wieder in die Kissen sinken und nahm sich vor, ein Schloss für sein Schlafzimmer zu besorgen. Gestern hatte er sie dabei erwischt, wie sie versucht hatte, ihr »Land der Schmetterlinge«-Schild am Hoftor aufzuhängen. Er hatte es wieder abgerissen und gesagt, dass es bescheuert sei. Sie hatte es wieder aufgehoben und ihn mit ihren großen, blauen Augen angestarrt. Die Hexe war ihm unheimlich. Schon vor Wochen war ihm bewusst geworden, dass er Angst vor ihr hatte, obwohl er gar nicht genau sagen konnte, warum. Als Kind war sie harmlos gewesen, aber jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Er hörte die Gemeindeschwester und beschloss, erst aufzustehen, wenn sie wieder gegangen war.
Deirdre O’Connell machte Fortschritte was Bens Selbständigkeit betraf. Kate registrierte erleichtert, dass ihr Bruder nicht mehr anfing zu schreien, wenn Deirdre ihn anfasste. Er lernte sogar, sich selber anzuziehen, und schob Kate beiseite, wenn sie ihn morgens zur Eile antrieb.
Als Deirdre fertig war, kam sie in die Küche, wo Kate gerade Teewasser aufgesetzt hatte.
»Ah, bist du fertig, Deirdre. Ich wollte gerade frischen Tee machen. Möchtest du eine Tasse?«
»Ja, gerne. Das sind ja gute Neuigkeiten mit Tess’ Kurs. Hattest du schon mal was über ANCO gehört?«
»Ja, das neue Schulungszentrum. Ich habe mich gewundert,
dass sie Tess überhaupt angenommen haben, weil, na ja … es ist ja eigentlich nicht für Mädchen wie Tess gedacht, oder?«
»Ich glaube, sie wird sich dort sehr gut machen, Kate. Es fahren jeden Tag mehrere Busse nach Knockbeg, sodass sie ohne große Mühe hin- und wieder zurückkommen kann.«
Kate verstummte. Deirdre wusste, was Kate beschäftigte,
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