Das Maedchen mit den Schmetterlingen
wollte aber abwarten, bis Kate von sich aus darauf zu sprechen kam.
»Tess war noch nie in so einer Einrichtung. Sie hat eine Sonderschule besucht, und dann war sie in der Klinik, wo die Leute mit ihr umgehen konnten. Aber wenn sie dort unter normalen Menschen ist, Deirdre, wird sie dann nicht ausgelacht?«
»Den Begriff ›normal‹ benutzen wir in diesem Zusammenhang eigentlich nicht. Tess ist intelligent, Kate, und sie hat diese Chance verdient. Früher oder später wird sie sich der Welt da draußen stellen müssen. Du kannst sie ja nicht ihr ganzes Leben lang unter deine Fittiche nehmen.«
»Ich weiß, Deirdre, aber sie ist so arglos. Ich könnte Dermot bitten, sie hinzubringen und wieder abzuholen. Sie kann ja nicht einmal mit Geld umgehen.«
»Das übe ich alles mit ihr, bevor es losgeht. Wir haben den ganzen Sommer Zeit. Wenn es sie zu sehr aufregt, lassen wir es eben ruhiger angehen, bis sie wieder stabiler ist. Aber du musst voll und ganz hinter ihr stehen, Kate. Sonst funktioniert es nicht. Deine Meinung ist ihr sehr, sehr wichtig. Einverstanden?«
»Einverstanden«, wiederholte Kate leise und malte sich bereits aus, was für schreckliche Dinge Tess da draußen im wirklichen Leben zustoßen konnten.
Kapitel 20
1971
A ls sich die Tür ihres Klassenzimmers öffnete, reckte Tess Byrne den Hals. Ein schlaksiger dunkelhäutiger Junge trat lärmend ein und ließ versehentlich die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Sie hatte diesen Jungen noch nie gesehen, hatte überhaupt noch nie einen Schwarzen gesehen und starrte ihn unverhohlen an, als er ihr gegenüber Platz nahm. Ein paar Schüler drehten sich nach ihm um, johlten, als er vorbeiging, und einer trat ihn kräftig gegen das Schienbein. Tess bemerkte, dass er nicht einmal zuckte, obwohl der Tritt wehgetan haben musste. Und sie bemerkte auch, dass er nicht zurückschlug oder biss, wie sie es getan hätte.
»Schluss jetzt, alle miteinander, ihr habt genügend Lärm veranstaltet. Herzlich willkommen, Leroy, schön, dass du wieder da bist. Ich hoffe, du hast im Krankenhaus fleißig gelernt.«
»Jawohl, Madam«, entgegnete der dunkelhäutige Junge mit einem deutlichen amerikanischen Akzent, zum Amüsement der anderen Kinder, die in lautes Lachen ausbrachen.
»Es reicht!«, rief die Lehrerin und brachte die kleine Klasse zum Schweigen.
In der Mittagspause trotteten die Schüler in den kleinen Saal, wo sie ihre Mahlzeiten einnahmen. Tess lagen tausend Fragen auf der Zunge, die sie diesem Jungen unbedingt stellen musste. Sie redete nie mit den anderen Kindern, nur mit Dr.
Cosgrove und gelegentlich mit der blonden Krankenschwester, deren fremden Namen sie kaum aussprechen konnte. Sie setzte sich dem Jungen gegenüber und ließ ihn nicht aus den Augen. Leroy grinste Tess an und entblößte dabei die weißesten Zähne, die sie je gesehen hatte. Sie streckte die Hand aus, um seine Haut zu berühren, zog sie aber wieder zurück, um sich nicht schon wieder sechs Schritte von zuhause zu entfernen. Außerdem wollte sie sich keine Ohrfeige einhandeln.
»Hast du noch nie einen farbigen Jungen gesehen, Miss?«
»Nein«, erwiderte Tess, sehr zum Erstaunen ihrer Mitschüler, die noch nie ein Wort aus ihrem Mund gehört hatten. »Du redest komisch.«
Leroy schien die Aufmerksamkeit zu genießen und wirkte kein bisschen gekränkt. »Ich bin Amerika-aner, weißt du«, antwortete er stolz, sodass die anderen Kindern sich vor Lachen verschluckten.
Tess blickte sich um. Was gab es da eigentlich zu lachen?
»Warum warst du im Krankenhaus, Leroy?«, erkundigte sie sich.
»Mein Blinddarm musste raus«, erklärte er, und sein amerikanischer Akzent verstärkte sich mit jedem Satz.
»Du hättst dir mal das Gehirn rausnehmen lassen soll’n, wo du schon da warst, mit deinem dämlichen Akzent, Leroy!«, riss einer seine Klappe auf. »Und außerdem, du Transuse«, wandte er sich an Tess, »das is’ gar nich’ sein richtiger Name. Er heißt Declan … Declan Brennan und hat nicht alle Tassen im Schrank. Hab ich Recht, Declan?«
Noch bevor Tess Leroy fragen konnte, ob das stimmte, sprang er auf, packte den Jungen, nahm ihn in den Schwitzkasten und prügelte so lange auf ihn ein, bis zwei Wärter die beiden trennten. Tess war entsetzt unter eine Bank geflüchtet, während die anderen Kinder vor Begeisterung johlten.
»Mein Gott, Declan«, brummte einer der Wärter, während sie Leroy davonschleppten. »Erst einen Tag da und schon gibt’s Ärger.«
Tess sah Leroy
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