Das Maedchen mit den Schmetterlingen
krank wurde. Aber heiraten oder in Urlaub fahren? In diesem Leben nicht mehr.
»Also gut. Ich komme am Freitag noch einmal vorbei und dann wiederholen wir die ganze Prozedur. Du wirst sehen, Kate, es dauert nicht lange, dann kann Ben sich selber waschen, und das ist erst der Anfang. Er braucht einfach ein bisschen Zeit. Ich habe mich auch nach Arbeit oder einem Ausbildungsplatz für Tess umgesehen, damit sie hier endlich rauskommt. Ich rechne jeden Tag mit einer Antwort. Bis Freitag.«
Als Kate der Gemeindeschwester hinterherwinkte, kam ihr plötzlich der Gedanke: Wenn Ben unabhängig ist und Tess arbeitet, was sollte sie dann eigentlich machen?
Tess stand im dunklen Flur und starrte Kate an. Sie neigte den Kopf zur Seite, wie immer, wenn sie verwirrt war, als Kate ihr einen schmalen, weißen Briefumschlag reichte, auf dem in großen Druckbuchstaben ihr Name und ihre Adresse standen.
»Was ist das?«
»Das ist ein Brief, Tess. Für dich.«
Tess sah unschlüssig ihre Schwester an, die darauf wartete, dass sie den Umschlag öffnete.
Sie riss den Brief auf und zog das Schreiben heraus. »Vom Schulungszentrum!«, jubelte sie. »Ich habe einen Platz im Kurs!«
Kate hatte Tess noch nie so glücklich gesehen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, lächerliche Tränen des Glücks und des Kummers.
»Kate, warum weinst du?«, fragte Tess.
»Ich weine nicht, Tess. Lies deinen Brief.« Kate öffnete die Küchentür und trat hinaus auf den Innenhof. Dabei lief sie Dermot in die Arme, der gerade ins Haus kommen wollte.
»Entschuldigung«, murmelte Kate hastig. Seit er ihr seine Gefühle offenbart hatte, waren ungefähr zwei Wochen vergangen, in denen sie ihm möglichst aus dem Weg gegangen war. Seine Mahlzeiten hatte sie ihm in den Ofen gestellt und sich woanders zu schaffen gemacht, wenn er zum Essen hereinkam.
»Alles in Ordnung, Kate?« Beim Klang seiner besorgten Stimme fühlte Kate sich schwach und schutzbedürftig.
»Ja, alles in Ordnung«, erwiderte sie, den Blick auf die Fußspitzen gerichtet. Es war ihr peinlich, dass er sie hatte weinen sehen. »Es ist bloß wegen Tess. Sie hat gerade die Nachricht erhalten, dass sie einen Platz im Schulungszentrum bekommt. Sie ist so aufgeregt … richtig glücklich. Das geht mir nah, und meine Gefühle sind mit mir durchgegangen, mehr nicht. Das verstehst du nicht.«
»Ich glaube, das verstehe ich sehr gut, Kate. Sie hat bisher nicht viel vom Leben gehabt. Aber sie hat sich doch gut eingelebt. Ich würde mir ihretwegen keine Sorgen machen, Kate.«
»Ich weiß, aber, verstehst du, meine Mutter wollte mehr für sie. Sie wollte, dass sie eine Arbeit findet. Tess ist nicht dumm, sie verhält sich manchmal nur merkwürdig, das ist alles. Aber sie hat nie eine richtige Chance bekommen, weil sie ihr halbes Leben in dieser Anstalt in Dublin verbracht hat.«
Dermot hörte ihr aufmerksam zu, die dunkelblauen Augen - genauso dunkelblau wie ihre - auf sie gerichtet, als wäre jedes
Wort, das sie sagte, von Bedeutung. Sie konnte förmlich spüren, wie sie sich fallen ließ, als könnte er sie auffangen und ihr alleine dadurch all ihre Sorgen und Nöte abnehmen. Nicht zu glauben, dass sie ihm das alles erzählte, hoffentlich ging sie nicht zu weit. Sie schüttelte sich kurz, als würde sie aus einem Tagtraum erwachen.
»Aber das ist alles kalter Kaffee«, sagte sie, richtete sich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Entschuldigung.« Sie schob sich an ihm vorbei, ging mit schnellen Schritten zurück in die Küche und ließ ihn verdutzt im Türrahmen stehen.
Tess trug den Brief in das Zimmer, das sie mit Kate teilte, und setzte sich leise auf ihr Bett. Sie hätte sich eigentlich lieber auf den Fußboden gesetzt, zwischen Bett und Frisierkommode, wo sie sich immer am sichersten fühlte, aber ihr war klar, dass das seltsam aussah, und außerdem hatte Deirdre gesagt, dass sie auch so in Sicherheit sei. Langsam ließ sie den Blick durch das Zimmer schweifen, wollte das Gefühl, den Brief in Händen zu halten, auskosten, bevor sie ihn noch einmal las. Im September sollte der Kurs in Knockbeg anfangen. Schreibmaschine schreiben und Büroarbeiten. Tess wusste, dass sie über kurz oder lang anfangen würde, sich wegen der bevorstehenden Veränderungen ihres Alltags Sorgen zu machen, aber jetzt war das Gefühl, gebraucht zu werden, stärker, und sie war glücklich.
Sam Moran fuhr zur Polizeiwache in der Beech Street, mehr als sechzig Kilometer von Árd Glen
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