Das Maedchen mit den Schmetterlingen
ständiger Angst lebte, der Busfahrer könnte eine falsche Straße nehmen, die nicht nach Knockbeg führte, und sie dann nicht mehr wusste, wo sie war. Sie fing an, sich an bestimmten Häusern oder auffällig geformten Feldern zu orientieren, um hundertprozentig sicher zu sein, dass der Fahrer auf dem richtigen Weg war, und nahm befremdete Blicke der Fahrgäste in Kauf, wenn sie leise vor sich hin summte, um den Drang, sich die Haut von den Lippen oder den Händen zu zupfen, zu unterdrücken. Sie legte Listen mit der Zahl der Häuser auf der rechten Straßenseite an, die zwischen ihrer Haltestelle und Knockbeg lagen, und zählte während der Fahrt laut mit. Sie ärgerte sich, wenn es hieß, sie solle sich keine Sorgen machen. Das war ihr keine Hilfe. Sie wusste, dass sie sich immer Sorgen machen würde. Schwester O’Connell bemühte sich, ihr beizubringen, Probleme nicht im Vorfeld lösen zu wollen, aber das hielt sie nicht davon ab, sich über das, was passieren könnte, Gedanken zu machen. Dermot hatte gesagt, dass es Dinge gibt, die man nicht ändern kann, und das hier gehörte zweifellos dazu. Tess hatte gebettelt, dass Dermot sie fahren sollte, doch Kate hatte sich geweigert und gesagt, dass sie selbständiger werden müsse und Dermot auf dem Hof gebraucht würde. Unbegreiflicherweise bereitete ihr die Fahrt nach Hause weniger Kopfzerbrechen. Der Bus schlängelte sich die schmalen Landstraßen entlang und entließ sie an ihrer Haltestelle, wo Dermot bereits auf sie wartete. Er schien immer genau um diese Zeit dort zu tun zu haben. Er begleitete sie nach Hause und erkundigte sich, wie ihr Tag gewesen war, dann setzte Kate
ihr in der Küche Tee und Toast vor, und Tess ging ihr bei der Hausarbeit und der Zubereitung des Abendessens zur Hand. Wenn Kate sie nicht mehr brauchte, zog Tess sich auf ihr Zimmer zurück, um zu lernen. Sehr zu Kates Ärger hatte sie zum Üben eine Schreibmaschinentastatur auf die Schlafzimmerkommode gemalt und war erst bereit, sie wieder abzuwischen, nachdem Kate ihr versprochen hatte, beim nächsten Besuch in Dublin eine gebrauchte Schreibmaschine zu kaufen. Zum ersten Mal fühlte Tess sich nicht ausgegrenzt. Es gab einen Ort, wo sie jeden Tag hinging und wo sie von anderen gebraucht wurde. In ihrem Leben geschah etwas, womit sie niemals gerechnet hatte: Sie war glücklich.
Betroffen hörte Kate dem Doktor zu, als er ihr Seáns Laborergebnisse erläuterte. Sie hatte versucht, ihren Bruder zu wecken, doch er war zu verkatert gewesen, um aufzustehen. Entgegen dem ärztlichen Rat hatte er das Trinken nicht eingestellt, blieb aber immerhin abends zu Hause. Er besorgte sich den Alkohol im Dorf und trank allein in seinem Zimmer. Kate hatte zwar versucht, die Autoschlüssel zu verstecken, aber jedes Mal hatte er sie bedroht und eingeschüchtert, bis sie die Schlüssel schließlich herausgab.
Dermot hatte sie hergefahren und wartete draußen im Auto.
Leberinsuffizienz, sagte der Doktor, und zwar viel schlimmer, als er angenommen hatte. Seán könne damit noch Jahre lang leben, vorausgesetzt, er rührte keinen Tropfen Alkohol mehr an. Gegen den unerträglichen Juckreiz gab es Medikamente, aber die Krankheit selbst war nicht heilbar. Kate würde ihren Bruder sehr genau im Auge behalten müssen, damit er nichts mehr trank, und ihm sei klar, dass das nicht einfach war.
Als Kate bleich und angespannt wieder auf dem Parkplatz
auftauchte, brauchte sie Dermot nicht zu sagen, dass sie schlechte Nachrichten hatte. Sie kletterte auf ihren Sitz, bittere Tränen brannten ihr in den Augen. Natürlich hatte sie Mitleid mit ihrem Bruder, aber auch mit sich selbst. Jetzt musste sie sich also auch noch um ihn kümmern. Als Dermot seine Hand auf ihre legte und sie leicht drückte, zog sie sie nicht weg, sondern starrte regungslos auf ihren Schoß. Dermots Hand war warm und stark und machte ihre Sorgen ein kleines bisschen erträglicher. Sie war froh, dass er nichts sagte. Hätte er ihr sein Mitleid bekundet oder versucht, sie zu trösten, wäre sie unweigerlich in Tränen ausgebrochen. Als Kate Dermots Händedruck erwiderte, ließ er sie los, startete den Motor und gab Gas. Er wusste, dass Kate Byrnes Stolz nur eine kleine Dosis Freundlichkeit und Fürsorge zuließ.
Sam Moran vereinbarte telefonisch einen Termin bei Roberts & Holford, der Rechtsanwaltskanzlei im Aaran Quay, und brachte es tatsächlich fertig, die Fragen der tüchtigen Sekretärin nach dem Zweck seines Besuchs abzuwimmeln. Er war sich
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