Das Maedchen mit den Schmetterlingen
lernen.«
Kate warf Dermot einen schuldbewussten Blick zu. Sie wollte Tess nur beschützen, aber vielleicht hatte sie es im Praktikum besser als hier zu Hause? Vielleicht lernte sie ja noch, sich zu beherrschen, was Kate allerdings bezweifelte. Kopfschüttelnd schaute sie Dermot an, der geduldig wartete.
»Sie hat dich so richtig um den Finger gewickelt, stimmt’s?«
»Dann darf sie also wieder hingehen?«
»Wenn sie will.«
Dermot strahlte und wollte sich auf der Stelle auf die Suche nach Tess machen, als draußen vor der angelehnten Küchentür ein »Juhuh!« zu hören war. Sie lachten beide laut auf. Tess hatte sie die ganze Zeit belauscht.
»Einverstanden, Tess«, rief Kate, »aber freu dich nicht zu früh. Deirdre muss erst mal fragen, ob sie dich noch mal nehmen, und das wird nicht einfach.«
Aber Tess stand immer noch draußen im Flur und strahlte.
Kapitel 38
1978
L eroy Brennan saß auf Tess’ Fensterbank und ließ den Blick über das Klinikgelände schweifen. Sein rechter Fuß baumelte hin und her, während seine Freundin auf dem Bett saß und ihn zeichnete.
»Meine Mam ist wieder da«, sagte er beiläufig.
Tess blickte erstaunt auf, sagte aber nichts.
Leroys sah wieder hinaus über die Dächer der Stadt. Er fühlte sich wohl in seiner neuen Wohnung und hatte sogar billig ein paar Möbel erstanden. Die Arbeit in der Erwachsenenabteilung der Klinik, die Dr. Cosgrove ihm verschafft hatte, gefiel ihm, und alle waren freundlich zu ihm. Aber glücklich war er nicht. Den größten Teil seines Lebens hatte er in dieser Klinik verbracht, nur unterbrochen durch die Zeiten, in denen er probeweise in einer Pflegefamilie gelebt oder seine Mutter ihn zu sich geholt hatte. Er hatte diesen Ort gehasst, und trotzdem kam er zweimal in der Woche hierher, um seine einzige Freundin zu besuchen. Er war einsam und spürte, dass ihm irgendetwas fehlte. Seufzend beschloss er, das Thema zu wechseln.
»Hat deine Schwester sich mittlerweile mal bei Dr. Cosgrove gemeldet?«, fragte er vorsichtig. Er wusste, dass Tess jetzt fast erwachsen war und Dr. Cosgrove es irgendwie hingekriegt hatte, dass sie hierbleiben konnte.
»Mein Bruder ist krank«, erwiderte sie nur. Dann griff sie nach einem anderen Buntstift um ihr Werk zu vollenden. »So, fertig. Gefällt es dir, Leroy?«
Leroy betrachtete die Zeichnung und war verblüfft, dass er sich tatsächlich wiedererkannte.
»Großartig, Tess. Du solltest Künstlerin werden und könntest ein Schweinegeld mit deinen Gemälden verdienen.«
»Ein Schweinegeld?«, sagte sie und legte den Kopf etwas schief.
»Ich meine damit sehr viel Geld, Tess«, grinste er.
Das Mädchen tat ihm leid, sie war schon so viele Jahre hier. Was sollte aus ihr werden, wenn ihre Angehörigen sie nicht mehr bei sich aufnahmen? Hoffentlich musste sie nicht den Rest ihres Lebens hier zubringen. Eine Zeitlang hatte er gehofft, sie würde sich für ihn als Mann interessieren. Sie war wunderschön, aber ihm war klar, dass ihr das überhaupt nicht bewusst war. Er liebte ihr langes, schwarzes Haar und ihr blasses Gesicht. Er liebte sogar ihre traurigen, leeren Augen, die ihn niemals richtig wahrzunehmen schienen. Aber er wusste, dass sie mit dieser Art von Liebe nichts anfangen konnte und ihn nur als Vertrauten betrachtete. Er stand auf und ging zur Tür.
»Leroy?«
»Ja, Tess?«
»Deine Zähne sind nicht mehr nachgewachsen«, sagte sie, ohne von ihrem Zeichenblock aufzublicken.
»Was?«
»Als deine Mam dich mitgenommen hat und danach deine Zähne weg waren, sind sie nicht mehr nachgewachsen«, sagte sie und starrte ins Leere.
Leroy warf seiner Freundin einen erstaunten Blick zu. Hatten ihre Worte eine tiefere Bedeutung oder war ihr einfach
eingefallen, was ihm beim letzten Besuch seiner Mutter zugestoßen war?
»Mir tut keiner was, Tess, versprochen«, sagte er, ging hinaus und zog behutsam die Tür hinter sich zu.
Kapitel 39
1981
K ate hörte Seáns Schmerzensschrei und eilte hinaus auf den Hof, wo ihr Bruder seit drei Tagen verbissen versuchte, den Traktor zu reparieren. Um die Mittagszeit hatte sie darauf bestanden, dass er zum Essen erschien. Auch Dermot hatte sich noch nicht blicken lassen, und sie hoffte, dass es nicht noch mehr Streit gegeben hatte. Seán hatte sich die rechte Hand eingeklemmt und blutete heftig. Kate wickelte ein Handtuch um die Wunde und schickte ihn in die Küche, um sie mit kaltem Wasser auszuwaschen. Die Wunde zog sich vom Unterarm, ungefähr sieben Zentimeter über
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