Das Maedchen mit den Schmetterlingen
ließ ihn nicht aus den Augen, während er seitlich um das Haus herumging und sich der Küche näherte. Da fiel ihr ein, dass Ben auf dem Küchenfußboden saß und summte und schaukelte und ihre guten Buntstifte im Mund hatte und mit seiner Spucke bekleckerte. Ihr Herz machte einen Sprung. Sie rannte den Flur hinunter und warf einen vorsichtigen Blick in die Küche. Der Mann legte die Hände seitlich an die Schläfen und spähte durch das hell erleuchtete Küchenfenster. Als er Ben entdeckte, klopfte er gegen die Scheibe, und als der Junge nicht reagierte, klopfte er noch fester. Ben erschrak und fing wieder an zu weinen. Moran versuchte es mit Rufen. Ben schaukelte immer heftiger, bis er mit der Stirn gegen das Tischbein schlug und noch lauter schrie. Tess hatte eigentlich gehofft, so lange in ihrem Versteck bleiben zu können, bis der Fremde wieder verschwunden war. Aber jetzt lief sie in die Küche und versuchte ihren Bruder zu beruhigen, so wie Kate es immer machte, aber es klappte nicht, und Ben wurde immer aufgeregter und schlug noch zweimal mit dem Kopf gegen den Tisch. Tess rannte zum Telefon und nahm den Hörer ab, wusste aber nicht, wen sie anrufen sollte. Sie hörte den Mann rufen: »Miss, ich möchte doch nur Ihre Version der Geschichte hören«, aber sie wusste nicht, welche Geschichte er meinte, und merkte, wie ihr die Tränen kamen, weil sie doch gar keine Geschichten kannte.
»Miss, könnten Sie mich bitte reinlassen, bitte! Ich bin auch sofort wieder weg«, rief Sam völlig rücksichtslos, obwohl er
wusste, dass er den Jungen und seine Schwester damit in Angst und Schrecken versetzte.
Tess war nahe daran, sich in die Hand zu beißen, doch dann widerstand sie diesem Impuls und ließ die Hand wieder sinken. Der Mann klopfte immer noch an die Scheibe und hörte nicht auf zu rufen. Schließlich fiel ihr nichts anderes mehr ein, als »Hilfe!« ins Telefon zu schreien und alle Tasten zu drücken, bis der Mann davonrannte.
Tess hörte ihn in sein Auto steigen und den Motor anlassen. Ihr stockte der Atem, als sie ihn rückwärts in die Einfahrt stoßen sah. Wollte er zurückkommen? Doch dann brauste er in Richtung Dorf davon, und sie atmete erleichtert auf.
Eine Weile verharrte Tess regungslos im Flur und versuchte zu begreifen, was geschehen war und was der Mann von ihr wollte. Dann ging sie in die Küche zurück, wo Ben leise wimmernd seinen schmerzenden Kopf befühlte. Aber er blutete nicht, und sie gab ihm noch ein paar von ihren Stiften. Dann verbarg sie sich im hintersten Winkel des Flurs, wo es keine Fenster für irgendwelche Fremden gab, und wartete auf Kate.
Im ersten Pub war Seán nicht zu finden gewesen. Kate hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn zuerst in einer Kneipe vermutete, aber wo sollte er sonst hingegangen sein? Sie eilte ans andere Ende des Ortes, ins Slattery’s, wo Dermot arbeitete. Sie keuchte und beschleunigte ihre Schritte, ihre Panik wurde immer größer. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren, das Herz raste. Nur ein einziges Glas und Séan würde wieder in sein altes Verhalten zurückfallen. Sie wollte Dermot keine Schwierigkeiten machen, aber Seán hatte dort regelmäßig verkehrt, und so dachte sie, dass er vielleicht unbemerkt in den Pub geschlüpft war, auf ein schnelles Glas, in der Hoffnung,
rechtzeitig wieder im Wartezimmer zu sitzen, bevor Kate ihr Telefonat mit Tess beendet hatte.
Dermot blickte auf, als Kate die Gaststube betrat. Er wusste sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie winkte ihn zur Tür, weil die anderen Gäste nichts hören sollten. Ihr Onkel Jimmy, der gerade mit dem Bus aus Dublin eingetroffen war, saß vor seinem gewohnten Feierabendbier und nickte ihr zu.
»Kate«, sagte er und tippte sich an die Mütze.
Kate beachtete ihn nicht. Sie hatte seit Jahren kein Wort mit ihrem Onkel gewechselt, weil sie immer noch wütend war, dass er damals Seán mit dem Tod ihres Vaters in Verbindung gebracht hatte. Dermot folgte ihr vor die Tür, und sie erzählte ihm von Séans Verschwinden. Er sah ihr an, dass sie sich schreckliche Sorgen machte. Mit bebender Stimme schwor sie, nur ein paar Minuten weg gewesen zu sein. Er ging wieder hinein und bat seine Tante, ihn hinterm Tresen zu vertreten, um Kate zu helfen, nach Seán zu suchen.
Auf dem Weg zur Tür packte Jimmy Kelly ihn am Arm und beugte sich so weit vor, dass Dermot der Alkohol- und Zigarettengeruch fast den Atem verschlug.
»Stimmt was nicht, mein Junge? Meine Nichte hat ja ausgesehen,
Weitere Kostenlose Bücher