Das Maedchen mit den Schmetterlingen
dem Handgelenk, über die Handfläche bis zum Daumen und hatte die Hauptschlagader nur knapp verfehlt. Nach Kates Einschätzung musste die Wunde genäht werden, und sie bot Seán an, ihm, zum Arzt ins Dorf zu fahren. Erst wollte er nichts davon wissen, doch als die Schmerzen immer unerträglicher wurden, lenkte er zu Kates Überraschung ein. In weniger als einer Stunde würde Ben nach Hause kommen, und Kate musste Tess mit ein paar schriftlichen Anweisungen alleine lassen. Dermot war bereits gegangen, um im Pub seiner Tante zu arbeiten, und würde erst morgen wiederkommen.
Im Wartezimmer jammerte Séan ununterbrochen, und Kate versuchte ihn abzulenken. Sie wunderte sich, dass er so schlimme Schmerzen hatte. Im Lauf der Jahre hatte er schon
viele ähnliche Verletzungen erlitten und sie in der Regel kaum wahrgenommen. Das Wartezimmer war voll mit alten Leuten und hustenden Kindern. Kate wurde immer nervöser. Sie befürchtete, dass Tess alleine mit Ben nicht klarkam, spürte, wie ihre Handflächen schweißnass wurden, und erwog, das Angebot von Schwester O’Connell anzunehmen und Ben übers Wochenende wegzugeben. Am liebsten hätte sie die Arzthelferin am Empfang gefragt, ob sie das Telefon benutzen durfte, um Tess anzurufen, ob alles in Ordnung war, aber die Rezeption war zu belebt, und sie wollte nicht, dass jemand ihr Gespräch mit anhörte.
Sie blätterte in einer Zeitschrift und spähte immer wieder auf ihre Armbanduhr. Von Sorge überwältigt beschloss sie, zur Telefonzelle vor dem Postamt zu gehen - keine Minute entfernt - und Tess anzurufen.
Sie hastete den Weg entlang, kramte unterwegs in ihrer Handtasche nach dem passenden Kleingeld und wählte hastig ihre Nummer. Nach dem siebten Klingeln ergriff sie Panik. Misshandelte Tess ihren Bruder womöglich, wenn er nicht aufhörte zu schreien? Augenblicklich schämte sie sich dieses Gedankens.
Als Tess schließlich beim zehnten Klingeln abnahm, war Bens Stimme im Hintergrund nicht zu hören.
»Tess! Ist alles in Ordnung? Wo ist Ben?«
»In der Küche«, erwiderte Tess gelassen. »Als du nicht da warst, wollte er nicht aufhören zu schreien, ich hab ihm mein Malbuch und meine Stifte gegeben. Die liebt er, und normalerweise gebe ich sie ihm nicht, weil er reinbeißt und sabbert und …«
Tess plapperte ununterbrochen weiter, und Kate stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie versicherte, dass sie so schnell wie möglich nach Hause kommen wollte und dass
Tess, falls sie um sechs Uhr noch nicht da war, Ben ein bisschen Kartoffelbrei geben sollte, aber nicht zu heiß.
Lächelnd hörte sie Tess antworten: »Ich weiß, Kate, ich bin doch kein Baby mehr!« Dann hastete sie zurück in die Arztpraxis.
Mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf durchquerte sie das überfüllte Wartezimmer. Vor der letzten Stuhlreihe, wo sie mit Seán gewartet hatte, blieb sie stehen, blickte auf und stellte fest, dass ihr Bruder verschwunden war.
Sam Moran beobachtete, wie Kate Byrne ihrem Bruder aus dem Lieferwagen half und ihn in die Arztpraxis brachte. Er konnte sein Glück kaum fassen. Gerade eben war er im Slattery’s gewesen und wusste, dass Dermot Lynch bereits dort war. Also musste die jüngere Schwester alleine zu Hause sein. Er ging zu seinem Wagen, vergaß den Artikel, den er eigentlich schreiben sollte, und fuhr zum etwas abseits gelegenen Hof der Byrnes. Er stellte den Wagen hinter einem dichten Gebüsch ab, damit er sich dem Haus unbemerkt nähern konnte.
Doch Tess hatte ihn bereits gehört und wusste, dass ein fremdes Auto auf das Grundstück gefahren war. Sie sah aus dem Fenster, konnte aber nichts entdecken. Sie hoffte trotzdem, dass es Dermot war, der mit einem anderen Auto herausgefahren war, um ihr Gesellschaft zu leisten. Sie war nur ungern alleine, wollte Kate aber beweisen, dass sie schon erwachsen war. Und auf Ben passte sie auch nur sehr ungern auf. Sie hatte ihn zwar gerade zum Schweigen gebracht, aber ihr war klar, dass es nicht lange dauern würde, bis er wieder anfing zu jammern. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihre Liste abzuarbeiten und ihm das Sprechen beizubringen.
Mit Entsetzen sah sie einen fremden Mann den schmalen
Pfad zum Haus entlangschleichen. Ihr Herz fing an zu hämmern, und sie versuchte sich ihre Notfallliste für den Umgang mit Fremden ins Gedächtnis zu rufen. Sie sah, wie der Fremde durch die Glasscheibe der Haustür blickte, und war wie gelähmt. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie fürchtete, er könnte es hören. Sie
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