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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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blasse, unschuldige Farbe. Nach der frostigen Nacht war es erst einmal angenehm. Doch sie mußten mit der Sonne wandern. Tanaquil hielt den Kopf gesenkt.
    Wie immer war es mühsam, durch den Sand zu stapfen.
    Ungefähr eine Stunde lang marschierten sie. Allmählich wandelte sich die tröstliche Sonnenwärme, begann zu brutzeln und zu kochen. Jeder Schritt war eine Strafe. Die Kraft der Sonne brannte Tanaquil in den Augen und hämmerte wie ein Gong über ihrem Kopf.
    Mit wilder Verzweiflung dachte Tanaquil an Eis. Berge von Eis, die sie mit Kälte versengten. Sie schmolzen.
    Eine weitere Stunde verging.
    Tanaquil wollte sich nur noch in den Sand niederlegen. Manchmal mußte sie sich hinsetzen und ausruhen. Nirgendwo gab es Schatten oder Schutz gegen die Sonne. Sie konnte kaum noch schlucken.
    »Mutter«, krächzte Tanaquil, »was tust du?«
    Ihr kam der Gedanke, daß Jaive denken mußte, ihre Tochter hätte sich von ihr losgesagt. Schließlich hatte Tanaquil ja damit gedroht, sie zu verlassen. Vielleicht glaubte Jaive auch, sie und das Einhorn seien Komplizen. Würde Jaive sich in diesem Fall von Tanaquil lossagen? Würde sie ihre Tochter in der Wüste ihrem Schicksal überlassen? Tanaquil biß sich auf die Unterlippe. Sie wollte weinen, doch Tränen hätten ihren Durst nur noch verschlimmert.
    Plötzlich preschte das Piefel davon. Tanaquil krächzte ihm hinterher; es beachtete sie nicht und verschwand über den Dünenhang zu ihrer Linken. Hatte auch das Piefel sie nun verlassen?
    »Sie hätte einen ihrer Dämonen schicken können«, flüsterte Tanaquil aus heiserer Kehle vor sich hin. »Sie könnte mich finden. Schließlich ist sie eine Zauberin.«
    Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem rechten Auge. Sie hätte sie gerne wieder zurückgestopft, wenn sie es vermocht hätte. Warum sollte sie über die Gleichgültigkeit ihrer Mutter weinen? Ihre Mutter hatte sie nie beachtet. Tanaquil war eine einzige Enttäuschung für Jaive, die offensichtlich ihre Tochter nach ihrem eigenen Bild hatte formen wollen. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen.
    »Beschäme sie«, keuchte Tanaquil trotzig, »das wär doch was.«
    Die Sonne stand hoch am Himmel; die Zeit war schnell vergangen, während sie dort wie betäubt gesessen hatte, bald würde es Mittag sein. Tanaquil begann, den sengenden Sand beiseite zu schieben und sich eine kleine Höhle zu graben. Die Mulde war nicht tief genug, aber sie legte sich hinein, rollte sich zusammen und scharrte den Sand wieder über sich. Sie fühlte sich, als werde sie gesotten, doch die direkte Sonneneinstrahlung wurde so immerhin vermindert. Sie verdoppelte ihren provisorischen Schal, um Gesicht und Hände zu schützen.
    Ich werde überleben. Irgend etwas wird passieren.
    Sie versuchte, nicht darauf zu hoffen, daß das Einhorn zurückkehren möge. Sie träumte oder halluzinierte jedoch seine Rückkehr, und es berührte den Sand mit seinem Horn und ließ eine Quelle entspringen . Statt dessen war es das Piefel, das mit heißer, sandiger Zunge ihre Stirn und ihre Wangen ableckte.
    Tanaquil wollte das Piefel umarmen, es bestand jedoch darauf, etwas gegen ihren Mund zu werfen. Tanaquil schreckte zurück. Das Etwas war eine Schlange, die das Piefel auf der anderen Seite der Dünen gejagt und erlegt hatte.
    »Mahlzeit«, sagte es.
    Zweifelnd blickte Tanaquil auf die Schlange. Bevor das Piefel sie angegriffen hatte, war sie schön gewesen. Nun lag ein zerfetztes Stück rohen Fleisches vor ihr im Sand, das sie nicht wollte. Trotzdem wäre es vernünftig, ein Stück davon herunterzuwürgen - und undankbar, es nicht zu tun.
    »Danke.«
    »Keine Ursache«, gab das Piefel zur Antwort. Es begann, die Schlange vom anderen Ende her zu verspeisen, wobei es schmatzende Geräusche machte und die Augen verdrehte, um Tanaquil davon zu überzeugen, wie gut der Bissen mundete.
    Tanaquil brachte es über sich, ein Stück Schlange aus der Haut zu lösen, zu zerkauen und herunterzuschlucken. Das Fleisch war kühl und glättete ihre Kehle. Die feine Haut jedoch ekelte sie an. Trugbilder tanzten vor ihren Augen, Gärten und Seen mit Booten, wie Jaive sie ihr in ihrem magischen Spiegel gezeigt hatte. Sie dachte daran, daß Jaive immer wieder darauf herumritt, wie schlecht diese Welt gemacht sei, daß es andere gebe, die noch schlimmer seien, und eine perfekte Schöpfung. Ganz offensichtlich war mit Tanaquils Welt etwas nicht in Ordnung, einer Welt, in der man nur überleben konnte, wenn man andere Wesen tötete. Jedes

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