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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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kann der Gilde nicht beitreten. Das würde großes Unglück für uns alle bedeuten.« »Also ab in den Hafen mit ihr«, forderte eine Stimme, an die sie sich erinnerte.

 
7
     
    Die Wand unter den Buchstaben, unter Hammer und Meißel verwandelte sich. Und dann, ganz einfach, teilte sie sich. Wieder waren da die Baumwipfel und ein dunklerer, tiefblauer Himmel voller wilder Sterne. Wählerisch wie eine Katze kam das Einhorn wie auf Glasschuhen durch die Öffnung hinein, durch die Halle hindurch. Ohne Gewalt, ohne Eile. Es bewegte sich im Rhythmus eines älteren Tanzes, machte alle Rituale dieser Welt zunichte. Schwarz, Silber, Gold und Mondopal. Nacht und Meer, Feuer, Erde, Luft und Wasser.
    Diesmal habe ich es wirklich gerufen. Oder habe es jedesmal gerufen.
    Tanaquil hörte, wie das Piefel zu ihren Füßen den Fisch mit einem einzigen Würgen verschluckte. Und sie hörte das ungedämpfte Pochen ihres eigenen Herzens. Dann kreischte einer der Kunsthandwerker auf. »Es ist das Geheiligte Tier! Flieht! Rettet euer Leben! Die Stadt ist verloren!«
    Und auf irgendeine Weise wurden die mechanischen Sessel umgeworfen, die verschlossene Tür zum Korridor wurde aufgerissen, und aus ihr heraus drängten und schubsten und quollen die Gildenmeister mit maskierten Schreien und erschrockenen Püffen.
    Das Einhorn, sanft wie ein Reh, tänzelte leichtfüßig hinter ihnen her. Wie eine Woge von Sternen kam es an Tanaquil vorbei. Sie glaubte die Musik der Knochen und des Nachtwindes zu vernehmen, der sich um das Horn schlang.
    Als das Einhorn durch die Tür und den Korridor auf die Eingangstür zustrebte, zerrte das Piefel an seiner Leine und bedeutete Tanaquil so, ihm zu folgen. Und wieder konnte Tanaquil nicht umhin, dem Nachttraum hinterherzujagen.
    Im Korridor drehten sich die Stuckköpfe unbeachtet und streckten ihre Zungen heraus, und dann lag die Straße hinter dem weit geöffneten Säulenportal zu ihren Füßen. Und die Straße entlang stoben die Gildenmeister in ihren hochgeheiligten und nun einer breiteren Öffentlichkeit enthüllten Zeremonialgewändern, sprachlos in den Fängen der Panik. Und das Einhorn trabte hinter ihnen her.
    Tanaquil straffte die Leine. »Nein — laß es ziehen — ich hätte es nicht - nein - nein« Und dann riß die Leine, und das Piefel stürzte auf die Straße hinaus, vielleicht nur auf der Jagd nach seiner alten Trugvorstellung einer Mahlzeit oder eines Schatzes - des Knochens -, und Tanaquil folgte ihm. Sie zwang ihr Gehirn zu fieberhafter Arbeit, während ihre Füße versuchten, nicht zu rennen.
    Wie hatte das Einhorn die Stadt betreten? Sie sah es vom Himmel springen wie einen fallenden Kometen. Aber nein, es war viel prosaischer zugegangen. Sie schien das schmale Tor zu erblicken, durch das sie die Stadt betreten hatte. Einer der Soldaten war neben seiner Weinflasche eingenickt, der andere lungerte müßig herum und blickte dabei auf etwas, das sich ruhig und still aus den Obstgärten und Hainen der Ebene näherte. Ein Pferd? Ja, ein Pferd, das irgendeinem Adligen entlaufen war. Das Pferd erreichte das Tor, und der Soldat, nicht betrunken genug, um eingedöst zu sein, lächelte es an und versuchte es zu tätscheln, was ihm jedoch irgendwie nicht gelang. Dennoch gab er den Eingang zur Stadt frei, und das Einhorn schwebte hindurch wie eine Dunstwolke. »Pferd-Pferd«, nuschelte der Wachsoldat freundlich.»Eines Tages werde ich auch ein Pferdchen haben.«
    In den Straßen brannten Fackeln in bestimmten Abständen, und hier und dort pendelte eine Lampe in einem Bogengang, oder ein erleuchtetes Fenster verbreitete den Schimmer von buntem Glas.
    Durch kalte Schattenbögen und kalte Lichtkegel irrten die fliehenden Kunsthandwerker. Sie keuchten nun wie rostige Blasebälge, stöhnten bisweilen und stießen Flüche hervor. Der eine oder andere lugte hin und wieder über seine Schulter zurück und verdoppelte, nachdem er die elegante Schwärze ihres Verfolgers immer noch hinter sich hertraben sah, seine Fluchtgeschwindigkeit, um sie bald wieder erschöpft zu verlangsamen. Niemand sah aus dem Fenster, um herauszufinden, was da vor sich ging. Tag und Nacht war die Stadt voller Lärm. Auch begegneten sie niemandem.
    An ihrem Endpunkt indes mündete die Straße auf eine andere, einen breiten Boulevard von ganz besonderer Pracht. Er wurde von Löwen aus vergoldetem Eisen gesäumt und hatte Lampenpfosten mit Laternen aus saphirfarbenem, grünem und karmesinrotem Glas. Leute schlenderten unter den Laternen

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