Das Mädchen und das schwarze Einhorn
einher, und an den Rändern der Straße gab es so etwas wie eine größere Ansammlung von Zuschauern, die mit gedämpfter Erwartung den Boulevard entlang blickten.
Die Kunsthandwerker hatten kein Mitleid mit dieser Barriere. Sie prallten auf sie, schlugen und pufften um sich und brüllten gutgemeinte Ratschläge, man möge fliehen oder wenigstens den Weg freimachen.
Doch die Menge schloß sich verärgert um die Fliehenden, wies auf die Masken: »Seht doch, die Gilde der Kunsthandwerker! Sie haben alle den Verstand verloren!« Und als die Kunsthandwerker mit atemlosem Gefluche Fäuste und Stöcke zu gebrauchen begannen, zahlte die Menge es ihnen mit gleicher Münze heim. Ein spektakuläres Handgemenge setzte ein.
Tanaquil, die sich etwa achtzig Fuß hinter der Speerspitze der Flucht befunden hatte, wandte ihren Blick von der Schlägerei ab. Sie bemerkte, daß das Einhorn, rein wie die Statuen unter den Lichtern des Boulevards, stehengeblieben war. Die aufwallende Menge schien es dort nicht zu bemerken. »Nein«, wiederholte Tanaquil, »tu es nicht.« Und das Einhorn, als hätte es sie gehört und wolle sie in seiner erhabenen, überirdischen Art necken, tänzelte mit einem kleinen Paradesprung seitwärts fort. Dort befand sich ein Garten oder eine Allee, und dorthinein trippelte das Einhorn.
Tanaquil rannte. Sie holte das Piefel ein, das immer noch rannte. Und in einer Lücke zwischen zwei hochaufragenden Häusern kamen beide zum Stehen. Sie versuchten, mit ihren Blicken die Schwärze dieses Tunnels zu durchdringen, aber dort war nichts. Zum wiederholten Male. In Luft aufgelöst.
Das Piefel ließ sich mitten auf der Straße nieder und putzte sich heftig, als sei es gerade nur zum Vergnügen gerannt, sei nicht hinter etwas hergejagt. Tanaquil ergriff seine Leine.
Der Lärm, den der Auflauf verursachte, war nun ohrenbetäubend geworden. Tanaquil begriff, daß sie mittlerweile nicht nur den Kampflärm, sondern auch das immer näher kommende Geräusch von Jubelschreien und Pfiffen die Straße hinunter hören konnte. Bürger, die nicht in das Handgemenge verwickelt waren, wiesen in diese Richtung. Sie machte eine regelmäßige Bewegung und Laternenschein auf Speerspitzen aus. Soldaten marschierten heran, um die aufrührerische Menge zur Raison zu bringen. Und hinter den Soldaten näherten sich noch mehr Lichter, Trommeln und Räderrollen.
»Es ist eine Prozession«, stellte Tanaquil fest. Vorsichtig pirschte sie sich heran. Die wild um sich dreschenden Kunsthandwerker und ihre Angreifer mischten sich nun mit fluchenden Soldaten in polierten Rüstungen und federgeschmückten Helmen. Das Handgemenge hatte sich mittlerweile auf den Boulevard ausgedehnt. Plötzlich entwirrte sich das Menschenknäuel und flutete über die Fahrstraße.
Tanaquil zog sich auf die Plinthe einer Laterne hoch, während das Piefel den Pfosten hinaufkletterte.
Kunsthandwerker und einfache Bürger quollen über die Straße. Soldaten teilten Püffe mit den stumpfen Enden ihrer Speere aus, und eine komplette Prozessionsreihe von Trommlern fiel kreischend über sie her, während sich Pferde aufbäumten, Streitwagen umkippten und Blumen und Feuer in einem verrückten Tanz durch die Luft wirbelten. »Jetzt ist es keine Prozession mehr«, bemerkte Tanaquil.
Sie starrte gerade verwundert auf das chaotische Knäuel, das nicht so aussah, als könne es jemals wieder entwirrt werden, als ein erstaunlich intakter Streitwagen quer durch den Tumult schoß und ganz nah neben Tanaquils Plinthe zum Stehen kam. Der Streitwagen war zierlich, bemalt und vergoldet und mit Blumengirlanden behängt und er wurde von zwei kleinen weißen Pferdchen gezogen. Die Fahrerin war vielleicht ein Jahr jünger als Tanaquil. Sie trug lange Zöpfe aus dickem schwarzen Haar und war in einen Umhang aus rotem Samt und purem Goldstoff gehüllt, der mit Rubinen bestickt zu sein schien.
»Was«, rief das Mädchen mit einer durchdringend hohen und herrlichen Stimme, »ist das hier für ein entwürdigendes Spektakel?«
Plötzlich war alles still. Die Kämpfe auf der Straße wurden eingestellt. Die Kombattanten trennten sich, sofern ihnen das auf die schnelle möglich war. Sie nahmen sich Masken ab, preßten sich Kleidungsstücke auf blutende Nasen und standen eingeschüchtert und mit hängenden Schultern herum.
» Aha, so bedeutend ist sie also «, dachte Tanaquil. Und während sie zu dem Mädchen herunterschielte, hatte sie das seltsame Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein.
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