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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Vielleicht hatte es mit seinen übernatürlichen Nüstern den alten Ozean gerochen, der einst die Wüste bedeckt hatte. Vielleicht aber, und das war wilder und doch vernünftiger als alle anderen Möglichkeiten, war alles vorherbestimmt gewesen — daß das Einhorn sich unter dem Hügel zum tödlichen Schlaf legen würde, daß sie eine halbe Meile von seinem Grab entfernt geboren wurde,
    sie, ein Nachkomme der Stadtfürsten, seine Retterin.
    »Hoffentlich bin ich das auch. Nach all dem Geschehenen wäre ich es besser, um Himmels willen.«
    Der Rock zerfetzt, Hände und Füße aufgeschürft, erreichte sie den Gipfel der Klippe.
    Sie dachte an die Muschel, die sie in dem Hügel in der Wüste gesehen hatte, fest im Gestein verankert. Würde die Lage dieser Versteinerung ähnlich sein?
    Nein. Diese hatte ihren Platz zur Linken des Bogens, in der Nähe der Öffnung, dem unteren Fossil schräg gegenüber. Wie kann ich das wissen? Denk nicht drüber nach. Tanaquil kroch weiter. Sie entdeckte Seetangbetten, die sich widerspenstig in den Felsen krallten. Mit Schreien der Empörung riß sie die Wurzeln heraus. Und fand die alte Wunde des Fossils, unverkennbar, genau passend, unglaublicherweise keiner Korrektur bedürftig.
    Sie preßte die versteinerte Muschel hinein. Sie paßte sich sofort ein.
    Sie war nicht vorbereitet —
    Denn die Klippe erbebte. Zitterte. Und aus dem Fels, von dem Bogen unten, drang eine Woge von rollendem, wirbelndem Licht und ein Geräusch wie eine einzige Liedernote, ein Gesang aus Stein und Wasser, Sand und Nacht und, möglicherweise, den Sternen. Tanaquil klammerte sich fest an die Klippe. Sie erwartete, das Tor werde unter ihr zusammenbrechen, werde sie abwerfen, doch das Beben klang ab und verebbte, und das Licht unten schmolz zu einem sanften, klaren Schimmer. Da blickte sie zu dem Einhorn hinüber. Sie nahm an, es werde plötzlich auf die Klippe lospreschen, hinein und hindurch und fort. Doch das Einhorn rührte sich nicht.
    »Was ist? Geh schon!« brüllte Tanaquil. »Bevor noch irgend etwas passiert - jemand kommt - oder ist es immer noch nicht richtig?«
    Doch, doch. Es war richtig- Dort war das Tor, es war da. Und doch stand das Einhorn reglos, wie ein Wesen des Steins.
    Tanaquil hievte sich mühsam über die Klippe und begann mit dem Abstieg. Sie war nun in Eile und nicht mehr besonders vorsichtig. Einmal, zweimal verlor sie den Halt und stürzte sodann dreizehn Fuß tief in ein weiches Bett aus Sand.
    Das Einhorn grub sie aus. Sie ruderte durch die erdrückende, erstickende Masse und kam frei, wie eine Katze um sich spuckend. Es war nicht das Einhorn.
    »Pnff«, sagte das Piefel » Böse.«
    »Ja, danke. Sehr böse.« Sie richtete sich auf und staubte die Sandkörner aus Haaren und Ohren. Das Piefel kitzelte sie, als es ihre Schürfwunden ableckte; sie schob es beiseite. »Warum steht es noch dort? Das Tor ist ...« Und dann erblickte sie das Tor, wie es nun war. Offen. Wartend. In der funkensprühenden Dunkelheit ein Oval aus Licht. Es war das Licht einer Sonne aus einer anderen Dimension. Warm und rein, gleichzeitig heller und sanfter als alles Licht, das sie jemals in dieser Welt gesehen hatte. In ihrer Welt. Und durch das Licht konnte man einen Blick auf — nein, es war nicht möglich. Nur eine Art Traum war dort, wie eine Fata Morgana, Farbe und Schönheit, strahlender Glanz und ein weit entfernter, süßer Ton. Tanaquil erhob sich, rief dem Einhorn zu: »Nun geh schon!«
    Da schüttelte das Einhorn sein Haupt. Es schnellte empor wie ein Pfeil von der Bogensehne. Alle vier Hufe vom Boden gelöst. Es flog. Im Flug stürzte es voran, wie Distelwolle, raste wie der Wind übers Meer.
    Es wirbelte unter der Klippe hin. Und Tanaquil sah, wie es das schimmernde Oval des Tores teilte und durchquerte. Sie sah es dort drinnen, inmitten der Schönheit und des Leuchtens.
    Und dann schoß das Piefel aus ihrem Griff davon.
    »Nett! Nett!« quietschte es, während es auf das Paradies zuraste.
    »Nein — das darfst du nicht — komm zurück, du blödes Vieh, o Gott, was für ein dummes Tier!«
    Sie sah, daß das Einhorn sich umgewandt hatte, dort, in dem Traum. Sein Kopf bewegte sich bedächtig. Es war keine abschlägige Antwort. War es eine Einladung?
    Das Piefel kreischte laut und tauchte in das Lichttor ein.
    Mit böser Vorahnung, von einem unbarmherzigen Verlangen gepackt, rannte auch Tanaquil los, über den Sand, unter den Bogen. Sie spürte, wie das Tor ihr Widerstand leistete, wie ein Tuch

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