Das Mädchen und das schwarze Einhorn
Irgend etwas, selbst jetzt noch — nein, unvollständig war es nicht, aber es fehlte etwas.
Sie machte kehrt und trat aus dem Felsbogen heraus.
Das Meer hatte sich wieder zurückgezogen, als die nächtliche Flut stieg. Als sie sich auf den Strand jenseits des Bogens zu bewegte, vernahm sie die dicke Mitternachtsglocke aus dem Palast, die, dünn wie ein Faden, in der lastenden Stille erklang.
Sie dachte an Lizra, an Zorander. Sie dachte wieder an Jaive. Doch vor ihr stand das Einhorn. Es war heruntergetrabt, fast bis zu dem Bogen. Es war ganz Dunkelheit. Sein Horn schimmerte nicht; selbst der blasse, wolkenverhangene Mond war heller.
»Ich habe getan, was ich tun konnte«, sagte Tanaquil. »Aber da ist noch etwas — nur weiß ich nicht, was.«
Das Einhorn schritt neben sie, auf den Eingang zu. Es blickte nach drinnen, in den funkenstiebenden Schatten. Sie sah sein Auge einmal feuerrot aufblitzen. Dann senkte es den Kopf auf den Boden, öffnete den Mund - sie sah den Schein der kräftigen silbernen Zähne, an die sie sich vom Schädel her noch erinnerte. Doch zwei weitere Gegenstände glommen in dem nassen Sand.
Tanaquil ging hinüber, immer einen respektvollen Abstand zu dem Tier wahrend - obwohl es sie einst an den Haaren gezogen hatte —, um zu schauen, was dort niedergelegt worden war.
»Hast du ihn dafür umgebracht?«
Das Einhorn hob sein Haupt wieder empor. Es gönnte ihr einen schrägen Seitenblick. Solch einem Gesicht hatte sie sich noch nie gegenübergesehen. Nicht menschlich, nicht tierisch, nicht dämonisch. Einzigartig.
Dann senkte es sein Horn und deutete nach unten, auf den Fuß der Klippen. Das Horn schwebte in der Luft und beschrieb dann einen Bogen aufwärts, nunmehr auf die Spitze der Klippen zwanzig Fuß über Tanaquils Kopf deutend. Nach einem kurzen Moment sprang das Einhorn wieder fort über den Sand. Es kehrte zu seinem früheren Platz zurück. Und wartete dort.
Tanaquil bückte sich und hob die beiden cremeweißen, spiralförmigen Fossilien auf, die das Einhorn aus seinem Maul hatte fallenlassen: die Mantelschließen, die der Fürst an seinem Prozessionsgewand getragen hatte. Die es von seinem Haihautumhang abgerissen haben mußte. Und vor langer Zeit waren sie womöglich aus dieser Klippe gerissen worden? Sie also waren die letzten noch fehlenden Komponenten des Tors. Tanaquil kniete sich dort nieder, wohin das Horn des Einhorns zuerst gezeigt hatte. Alt, naß und porös, die alte, wahre Gestalt zerstört, tat sich eine Wunde in der Klippe auf, die einst eine gewundene Spiralmuschel gehalten haben mochte.
»Was muß ich tun?« Tanaquil durchsuchte ihre Kleidung. Lizras Seidengewand, das sie ihr für die Prozession geliehen hatte. Es besaß keine Taschen oder Beutel für ein Messer, seine herunterhängenden Topase waren ungeeignet, die goldenen Applikationen zu weich. Schließlich riß sie das Mieder entzwei und zerrte eins der Fischbeinstäbchen aus dem Korsett heraus — wie sie gehofft hatte, bestand es aus Bronze. Damit begann sie den bröckeligen Stein auszukratzen. Dabei benutzte sie hin und wieder eine Handvoll rauheren Sand als Feile.
»Eines Tages werde ich irgend jemandem das alles erzählen, und keiner wird mir Glauben schenken.«
Es war ihr gelungen, das Fossil wieder in seinen ursprünglichen Platz am Fuße der Klippen einzupassen. Es saß nicht besonders fest, war aber das Beste, was sie unter den gegebenen Umständen zuwege bringen konnte. Sie hatte das Tor genauestens studiert. Der flüssige Schatten hatte sich nicht verändert. Die Funken kamen und gingen.
Tanaquil seufzte. Sie schaute den steinernen Ausläufer der Klippe hoch, zu dem wie eine Brücke geschwungenen Bogen hinauf. Die Geste des Einhorns war eindeutig gewesen. Wenn das eine Fossil hier unten eingesetzt werden mußte, hatte sein Gegenstück seinen Stammplatz oben, in luftiger Höhe.
Also begann Tanaquil in ihrem fürchterlichen Kleid und den denkbar ungeeigneten Palastschühchen, die Klippenwand zu erklimmen.
Sie war froh, daß wenigstens Regen und Sturm aufgehört hatten, denn der Felsen war rutschig und schwer zu besteigen, viel schwerer als die Hügel bei der Festung ihrer Mutter.
Während sie kletterte, dachte sie an das Einhorn und wie es dort unter dem Bogen in der Wüste gestorben war, der dem Bogen des Tores so sehr ähnelte. Vielleicht hatte die Ähnlichkeit es beruhigt, vielleicht hatte sie auch seine Pein gesteigert, als es dort in der Falle dieser fremden Welt gefangen saß.
Weitere Kostenlose Bücher