Das Mädchen und das schwarze Einhorn
rosengoldenes Licht wie das eines makellosen Spätsommernachmittags umfing die Welt wie in einer Gemme. Und wieder war es so wie mit allem in dieser Welt, daß sie noch nie ein vergleichbares Licht auf der anderen Seite des Tores gesehen hatte. Es war einfach so, daß hier nichts drohte oder sich zwischen sie und das Licht drängte. In Tanaquils Welt hatten selbst die besten und schönsten Dinge einen Hauch von Traurigkeit oder Unbehagen in sich getragen. Nichts war auch nur annähernd sicher. Das Licht der perfekten Welt war das Licht der absoluten Wahrheit. Und Tanaquil, die sich in Jaives Festung nach Ordnung, Abenteuer und Abwechslung gesehnt hatte, wußte nun, daß es andere Dinge gab. Einfach glücklich zu sein, würde einen nicht irgendwann krank machen. In Frieden zu leben, würde nicht langweilen. Glück und Frieden erlaubten es dem Geist, sich nach anderen Herausforderungen umzusehen. Sie konnte nur raten, wie diese Herausforderungen aussehen mochten, doch sie spürte sie in der Luft selbst. Würde sie sie einmal kennenlernen? Würden sie ihr gehören? Hoch oben, auf dem Gipfel eines Hügels, zeichnete sich die Silhouette des Einhorns gegen den leuchtenden Himmel ab. Ein sanfter Wind blies, liebkoste das Horn, und das Horn sang, schwingend und rein. Doch
es war nicht die wilde Musik, die sie in der Wüste vernommen hatte. Das Einhorn war nicht mehr schrecklich. Es war nur noch ... vollkommen.
Schon bald begaben sie sich wieder auf den Weg, erklommen die Hügel ohne Anstrengung. In weiter Ferne, auf einem anderen Berghang, sah Tanaquil ein Wesen aus weißem Gestein heraus in den sinkenden Tag gleiten. Es war so groß wie in ihrer Welt ein Haus und mit Schuppen besetzt wie eine blaue Schlange. Sein mit einem Kamm versehenes Haupt drehte sich hin und her, und die Schwingen öffneten sich wie Blätter über seinem Rücken. »Piefel, es ist ein Drache.« Das Piefel sah besorgt aus. Sie streichelte seinen Kopf. Blasses Feuer entströmte den Nüstern des Drachen, versengte jedoch nichts auf dem Hügel unter sich. Wie das Salz des Meeres war auch das Feuer hier harmlos. Das Piefel versteckte sich hinter Tanaquil. Sie schüttelte ihren Kopf, als es bäuchlings durch das Gras robbte. Und so folgten sie dem Einhorn, das sich immer noch dann und wann nach ihnen umzusehen schien und keinen Versuch gemacht hatte, sie abzuschütteln.
Die Sonne sank. Der ganze Himmel färbte sich rosenrot, und die Sonnenscheibe selbst wurde sichtbar in einem Rotton, den Tanaquil, so wollte es ihr jedenfalls scheinen, noch nie gesehen hatte. Aber vielleicht irrte sie sich auch. Nachdem die Sonne unter die Welt gefallen war, blieb die Ansammlung diamantener Sterne am Firmament, die stetig an Strahlkraft zunahm. Der Osten wurde heller, nahm ein flammendes Grün an.
Meilen entfernt schickte ein Hügel oder ein Berg eine Funkengarbe empor, und irgend etwas stieg aus den Funken empor. Es glitt auf breiten, blitzenden Schwingen dahin, über sie hinweg, unverkennbar. Ein Phönix.
»Arme Mutter«, sagte Tanaquil. »Wie würde sie all das hier lieben. Warum hat sie nie versucht, sich Zugang zu verschaffen?«
Nachtigallen begannen ihr Lied. Die Hügel waren eine einzige riesige Spieldose.
Der letzte Hügel kam, und in Unkenntnis dieser Tatsache erklomm Tanaquil ihn, das Piefel an ihrer Seite. Vom Gipfel aus breitete sich das Land unter ihnen aus, öffnete sich vor ihren Augen, unendlich wie der Himmel. Es war wie ein Garten aus Wäldern und Gewässern, alles verschwamm und glühte nun im roten und smaragdgrünen Licht der Abenddämmerung. Und darüber zog, weit entfernt und seltsam geformt, eine einzige breite Wolke.
Tanaquil meinte, es müßten Sterne in der Wolke sein. Aber es waren keine Sterne. »Piefel ... «
Das Piefel saß mit ihr auf der Hügelkuppe und starrte nach oben. Ob es wußte, was es erblickte? Es sagte jedenfalls nichts.
Doch Tanaquil wußte es.
Die Wolke war auch keine Wolke. Es gab Bänke und Terrassen, wenn auch vielleicht keine Außenwände. Hoch aufragende Türme mit Spitzen wie Perlen und Gebäude mit Säulen und Statuen von Riesen - und die Lampen wurden gerade entzündet. Dort, in jener Stadt, die in der Luft schwebte, sandten die Fenster ihr goldenes und silbernes Licht hinaus.
»Es mußte«, sinnierte Tanaquil, »ich wußte doch, daß es — Menschen hier geben muß — aber — Menschen ?«
Und dann, in der apfelgrünen Rose des Himmels, erblickte sie verschwommene, schimmernde Gestalten mit rauchartigem Haar
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