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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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aus schwerem Wasser, und dann nachgab. Und auch sie stürmte in die vollkommene Welt.

 
11
     
    Bis an den Wellensaum reichten die Blumen. Einige wuchsen, wie es schien, im Wasser. Ihre Farbe war wie gelöschter Durst. Blaue Blumen von derselben Bläue wie der Ozean und von einem noch dunkleren Blau, das ins Violett hinüberspielte. Und hinter ihnen Blumenbänke von Pfirsichrosa und Karmesinrot, und Blumen so gelb wie Zitronenwein. Bäume wuchsen zwischen den Blumen hervor. Sie waren sehr hoch und mit Dächern aus durchscheinendem, tiefem Goldgrün gedeckt. Glitzerdinger schlüpften zwischen dem Blattwerk hindurch. Die Ebene aus Blumen und Bäumen erstreckte sich weit, und am Horizont, Meilen entfernt, verschmolzen die Umrisse von Bergen mit dem Blau des Himmels. Eine einzige Bank blumenartiger Wolken stand am Himmel wie zurückgelassene Federn. Die Sonne schien hoch am Firmament. Ihre Wärme hüllte alles ein, wie Honig, und ihr sanftes Licht war klar wie Glas. Selbst die Wogen blitzten nicht auf, und doch schimmerten sie, als leuchte eine zweite Sonne in den Tiefen der See.
    Und rund um die Himmelssonne schienen große Tagesgestirne wie ein diamantenes Netz.
    Ein Vogel glitt aus einem der Bäume, deren Äste über dem Ozean hingen. Er schlängelte sich ins Wasser. Es war ein Fisch. Er umrundete Tanaquil, die im seichten Wasser stand, und schwamm dann ohne Neugier davon.
    Sie blickte ihm nach. Die schimmernde See kehrte zum Horizont zurück. Meerestiere spielten dort, und Wasserfontänen glitzerten auf. Dicht über der Wasseroberfläche, keine drei Fuß von ihr entfernt, schwebte ein bleigraues Ei in der Luft. Es war das Tor. Ich sollte es schließen. Nein. Ich sollte nicht hier sein - ich muß zurückgehen - Das Tor war blank und nicht einladend. Ihr schien, als würde niemand das Verlangen verspüren, sich ihm zu nähern. Sogar die Fische, die nun wie Silberpfennige aus den Bäumen tropften, schwammen einen weiten Bogen um das Tor.
    Sie blickte wieder nach vorn. Das Piefel, das irgendwie instinktiv wußte, wie man schwimmt, war seiner spitzen Schnauze in Richtung Strand gefolgt, tauchte auf und wälzte sich in den Blumen. Sie wurden nicht geknickt. Sie wichen ihm aus und tanzten erst dann wieder aufrecht, als es vorbeigegangen war.
    Auf der Ebene galoppierte, tänzelte und sprang das Einhorn umher, schien zu fliegen, ein Strahl goldsilberner Schwärze, während die Sonne Regenbogen um sein Horn entstehen ließ.
    »Dieses Wasser kann nicht salzig sein«, stellte Tanaquil fest, »oder es handelt sich um eine Art von harmlosem Salz. Den Blumen schadet es jedenfalls nicht.«
    Sie trat aus dem seichten Wasser heraus zwischen die Blumen. Ihr Duft war frisch und klar wie das Licht. Sie bewegte die Füße, und die Blumen, die sich unter ihrem Tritt zusammengerollt hatten, federten unversehrt in ihre vorherige Stellung zurück.
    »Wir sollten zurückgehen«, meinte Tanaquil zu dem Piefel.
    Das Piefel wälzte sich in den Blumen.
    Tanaquil wollte nicht zurückgehen. Es war die perfekte Welt, und sie wollte sie kennenlernen.
    Vögel sangen zwischen den Bäumen. Es war zwar nicht so, daß ihre Gesänge schöner als die der irdischen Vögel gewesen wären, aber sie besaßen eine Klarheit, die frei war von jeglichem Mißklang. Die Luft war erfüllt von einer Art von Glück oder einer anderen gütigen Macht, die keinen Namen hatte. Allein sie zu atmen machte froh. Keine Sorge bedrückte einen. Kein Schmerz aus der Vergangenheit, keine Angst vor der Zukunft. Kein Selbstzweifel. Kein Mangel an Vertrauen. Alles würde gut sein, jetzt und für immer. Hier.
    Das Einhorn hatte sich fürs erste ausgetobt. Es strich nun gemessenen Schrittes durch die Blumen, landeinwärts ziehend. Und einmal blickte es sich um, zurück zum Strand. Sie folgten ihm, ohne Hast, ohne Zögern.
    Nicht nur die Vögel sangen.
    Als sie durch die Seide des Blumenmeers über die Ebene wanderten, vernahmen sie ein Summen wie von Bienen ... Es gab Obsthaine auf der Ebene, Äpfel und Damaszenerpflaumen, Feigen und Orangen, Quitten und Oliven. Die zerbrechlichen Bäume erhoben sich in schwindelerregenden Höhen, mit Girlanden aus Blattwerk und Früchten geschmückt. Und die Früchte brannten wie Sonnen und Juwelen. Ohne nachzudenken, griff Tanaquil nach einem rubinroten Apfel, und er zitterte in ihrer Hand. Er lebte. Nie gestört, nie gepflückt, nie verzehrt. Er sang. »Oh, hör doch nur, Piefel. Hör doch !« Und das Piefel blickte in fragendem Staunen nach oben.

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