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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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»Insekt.« »Nein, es ist der Apfel. Er singt.« Keine Frucht war zu Boden gefallen. Vielleicht würde das niemals geschehen. Als sie in den Hain eintraten, verstärkten sich die flüsternden, klimpernden Töne. Jede Sorte hatte ihre eigene Melodie; jede verschmolz harmonisch mit den anderen.
    Als sie aus dem riesigen, wohlriechenden Obsthain heraustraten, tanzten Hirsche auf der Ebene. Das Einhorn war bereits an ihnen vorbeigezogen, und vor Tanaquil liefen sie nicht fort. Vögel flogen über ihren Köpfen, die Luftströmungen unter der warmen Sonne ausnutzend.
    »Was essen sie nur? Vielleicht ernähren sie sich von der Luft und dem Duft, ach, sie sind so gut.«
    Das Piefel pirschte sich an das Reh an, das herumwirbelte und zurückkanterte, alles spielerisch, woraufhin das Piefel es mit der Angst zu tun bekam und sich zu Tanaquil flüchtete.
    »Sie tun dir nichts.«
    »Groß«, sagte das Piefel mit nachträglichem Respekt.
    Die Sonne und die Tagesgestirne zogen über den Himmel hoch oben.
    Sie mußten ungefähr drei oder vier Stunden gewandert sein, doch Tanaquil verspürte keine Müdigkeit. Sie war nicht hungrig. Das Piefel legte nur Anzeichen von vagem Interesse für alles an den Tag. Sie hatte befürchtet, es würde versuchen, irgend etwas auszugraben, an etwas zu knabbern oder sein Bein zwischen den Blumen zu heben.
    Doch augenscheinlich machte sich keins dieser Bedürfnisse bei ihm bemerkbar.
    Zur vermutlich fünften Stunde erreichten sie den Rand der Ebene, die dort in einem See von der Farbe eines blauen Turmalins überging. Jenseits des Sees erstreckte sich ein Wald, in dem Papageien wie flammende Nadeln hin und her flogen. Tanaquil erblickte Tiere, die sich am Seeufer aalten. Das Einhorn, etwa eine viertel Meile vor ihnen, schritt friedlich zwischen ihnen hindurch. Sie schauten sich nach dem Neuankömmling um, zuckten mit den Schwänzen und gähnten. Offensichtlich kannte sie Einhörner.
    »Sind das ... ? Ja, tatsächlich, das sind Löwen. Und schau doch nur, Piefel!«
    Das Piefel schaute, Tanaquil war sich nicht sicher, ob es auch richtig begriff, was diese Szene bedeutete. Die stolzen, goldfarbenen Löwen hatten sich mit einer kleinen Schafherde vermischt und sich faul im Gas niedergelassen. Einige Schafe hatten dieselbe Sitzhaltung eingenommen, die Vorderbeine unter den Körper geschlagen, die Köpfe erhoben. Andere dösten, an die Flanke der mächtigen Löwen gelehnt. Laut blökend jagten einige Schafe Löwenjunge über das Seeufer. Sie stolperten alle in einem einzigen Haufen aus Fell und Wolle übereinander und begannen, sich gegenseitig zu putzen.
    Tanaquil fühlte keine böse Vorahnung, als sie und das Piefel sich ebenfalls hinunterbegaben, unter die Löwen. Sie schenkten ihnen auch keine besondere Aufmerksamkeit. Die Schafe blökten sanft, und eine der Riesenkatzen schnarchte. Die Schafe grasten nicht. Sie erkannte, wie ähnlich sich die Gesichter von Schafen und Löwen waren, ihre hochangesetzten Augen und langen Nasen.
    Das Einhorn schritt weiter aus, zog Kreise auf dem Strand.
    Ein Leopard streckte sich auf dem Ast einer hohen Zeder aus. Aus ruhigen, hellen Augen starrte er auf sie herunter.
    Schwäne glitten über die Spiegelfläche des Sees.
    Sie kamen an einem einsamen, singenden Apfelbaum vorbei, dessen Stamm aus dem Wasser wuchs.
    »Insekt«, sagte das Piefel.
    Im Wald standen, gewaltige Zypressen, Ilexbäume, Magnolien. Auf sonnengebadeten Lichtungen wuchsen Orchideen in Mosaikfarben. Rehe huschten wie Schatten umher, Luchse ruhten an schattigen Plätzchen, während sich Mäuse zwischen ihren Pfoten tummelten. Die Papageien kreischten vor Lachen. Affen schaukelten über ihren Köpfen wie braune Früchte. Farnpflanzen aus trinkbarem Grün explodierten in den Mündern wilder Springquellen. Wasserlilien schienen die Teiche zu pflastern. Schmetterlinge flatterten durch den Wald, und Bienen zogen ihre Kreise um den rötlichbernsteinfarbenen Stamm einer Kiefer. Ob sie wohl einen Stachel haben? Schlangen wie Rinnsale aus flüssigem Metall flössen durch das Unterholz.
    Das Einhorn konnten sie durch die Waldlichtungen vor sich schreiten sehen. Es wirkte nicht mehr phantastisch. Hier war es nur allzu wirklich.
    Als sie den Wald verließen, befanden sie sich wieder hoch oben, und als Tanaquil sich umwandte, sah sie die Landschaft, die sie durchzogen hatten, hinter sich verfließen. Die Berge waren nun näher gerückt, und die Sonne und ihr Sternenhofstaat standen mittlerweile tiefer am Himmel. Ein

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