Das Mädchen und das schwarze Einhorn
es, der es vollständig wiederbelebt hat — ein wundersamer Zufall. Oder hat das Einhorn auch mich benutzt? Ich wäre hocherfreut, wenn dem so wäre. Nichts kann ein Einhorn zerstören, Tanaquil, und nur die Verzweiflung kann es umbringen. Einst verzweifelte es — und selbst da blieben die Knochen unversehrt und das Leben in ihnen. Nun wartet es. Auf deine Hilfe.«
»Meine Hilfe? Was kann ich tun?«
Jaive lächelte erneut. Wärmer als ihr Feuerhaar war es, das Lächeln.
»Glaubst du, daß Einhörner jemals wirklich in dieser Welt gelebt haben können? Nein, ihre Heimat ist die perfekte Welt. Die Welt, für die unsere ein gescheitertes Modell war. Aus mir unbekannten Gründen streunte das Einhorn umher oder wurde bezaubert, wurde durch einen Riß im Wall seiner Welt hierher gelockt. Und dann wurde das Tor hinter ihm zugeschlagen. Es konnte nicht zurückkehren. Es lebte hier, und es litt Schmerzen. Es starb den einzigen Tod, den es sterben kann, schlief in der Wüste. Und du hast es gefunden.«
»Eigentlich hat das Piefel es gefunden.«
»Das Piefel hat sich dir angeschlossen, als dein Vertrauter.«
Aufgebracht, aber gläubig, sagte Tanaquil erneut: »Ja, Mutter.«
»Zweifellos«, erklärte Jaive, »war derjenige, der dieses Verbrechen an dem Einhorn beging, der es aus seiner perfekten Welt lockte und ihm dann die Tür zuschlug, der erste Herrscher dieser Stadt. Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, muß sein Nachfahre es freilassen. Und du, Tanaquil, bist die Tochter des Fürsten.« Jaive warf verächtlich den Kopf zurück. Wut und Schmerz durchzuckten ihr Antlitz, doch sie unterdrückte die Regungen, während Tanaquil sie musterte. »Erfülle deine Aufgabe«, endete Jaive.
»Ich glaube, du denkst, daß der Bogen in dem Felsen das Tor in diese andere Welt ist - daß er zerbrochen ist, so daß niemand das Tor mehr benutzen kann. Doch ich kann dieses Tor reparieren. Ist es so?«
»Ja, Tanaquil.«
»Aber Mutter, es besteht doch nur aus Luft und Stein - nicht aus Bronze oder Eisen. Es hat keine Stifte oder Rädchen oder Federn oder Gelenke ...«
»Es gibt sie. Nur eine Zauberin von deinen besonderen Fähigkeiten kann sie finden.« »Oh Mutter ...«
»Widersprich mir nicht. Das Einhorn hat mir Furcht eingeflößt. Mir! Aber du hattest nie Angst. Und jetzt, geh hin und sieh nach!« Jaive wies mit weitausholender Geste über den Strand hinweg. Noch ein neuer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Kein Schrecken mehr, sicherlich nicht. Es war Ehrfurcht, Jugend, lachende Freude. »Geh und sieh dich um. Laß es nicht noch länger warten!«
Das Einhorn befand sich am Strand unterhalb des Felsens. Seine Schwärze beschämte die Schatten, sein Horn brachte das Licht zurück. Der Regen hatte aufgehört, die Wogen glätteten sich.
Zerrissene Bänder ...
Hast du das auch gespürt? ...Es war seltsam ... Nur einen einzigen Augenblick lang - etwas ...
Diesmal kreischte Tanaquil nicht auf, rannte nicht fort. Sie war allein. Die düstere Milch der Gischt brodelte unter dem Bogen hindurch, und sie watete bis zu den Knöcheln im Wasser. Der Sturm hatte sich zwar gelegt, doch der Tag starb schnell in dichten Wolken. In einer Stunde würde die Nacht heraufziehen.
Sie hatte sich einmal umgeblickt, und die Flamme Jaives schwebte immer noch dort auf der sich verdunkelnden See. Sie hob einen Arm und winkte ihr zu, so wie die Gestalt ihrer Mutter ihr ein- oder zweimal von den oberen Fenstern der Festung zugewinkt hatte, als sie klein gewesen war. Doch das projizierte Abbild verblich wie das Tageslicht, schwand dahin. Epbal Enrax war ebenfalls verschwunden. Das Piefel hatte sich im Sand eingegraben. Tanaquil wußte nicht, was sie von dem Geschehenen halten, was sie fühlen sollte. Lizra und Zorander und Gasb waren auch verblichen. Nur das Tor zählte noch. Das Einhorn.
Das Einhorn war zurückgewichen, als sie sich ihm genähert hatte. Nicht ängstlich, nur vorbeugend, als prüfe es sie erneut. Sie erinnerte sich daran, wie es die Kunsthandwerker gejagt hatte, an den Moment, als es sich auf der Plattform aufgebäumt hatte. Das Einhorn konnte sie wesentlich effektiver als Gasb töten. Doch es hatte sich zurückgezogen, fort auf die Klippen hinauf, als sie in den Felsbogen eingetreten war. Tanaquil machte einen langsamen Schritt nach dem anderen. Das Gefühl, ein Abgrund lauere unter dem Sand, war stark. Sie suchte sich ihren Pfad, suchte jene unbeschreibliche Empfindung, die sie damals überfallen hatte, als schlafe sie für die Dauer
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