Das Maedchen und der Luegner
würde vorschlagen, wir brechen die Diskussion ab und warten einfach, was auf uns zukommt. Im Augenblick bin ich jedenfalls noch sehr zufrieden mit meiner neuen Gesellschafterin. Wo steckt sie übrigens? Ich dachte, sie würde mit uns zusammen das Frühstück einnehmen.«
Berta schüttelte den Kopf. »Ich habe sie gestern am Abend noch gefragt, ob sie Familienanschluss wünscht. Sie meinte jedoch, für den Anfang wäre es ihr lieber, wenn sie zuerst einmal in Ruhe alles beschnuppern könnte.«
»Das verwundert mich«, stellte Severin überrascht fest. »Eigentlich widerspricht das dem Bild, das ich mir von ihr gemacht habe.«
»Natürlich hat sie mir das unter dem Siegel der Verschwiegenheit gesagt, so von Kollegin zu Kollegin. Bitte, verraten Sie mich nicht«, fügte die Haushälterin ein wenig errötend hinzu. »Ich glaube, dass sie ziemlich schüchtern ist. Jedenfalls machte sie auf mich diesen Eindruck.«
Lavinia pflichtete ihrer Haushälterin bei. »Das kann ich nur bestätigen«, sagte sie. »Auch auf mich wirkte sie eher wie ein verschrecktes Kaninchen als wie eine selbstbewusste junge Dame, die sich aus Berechnung in solch eine einsame Gegend begibt wie es hier bei uns der Fall ist.«
»Lavinia!« begehrte Severin auf.
Doch die alte Dame ließ sich von dem Protest ihres Enkels nicht beeindrucken. »Deshalb glaube ich, mein lieber Junge«, sagte sie, zu Severin gewandt, »dass deine dauernden Verdächtigungen und Unkenrufe völlig aus der Luft gegriffen sind. Du brauchst gar nicht zu protestieren.« Abwehrend hob sie beide Hände. »Natürlich fügen wir uns deinen Anweisungen, wenn das nun mal deine Seligkeit ist.« Ein kaum merkliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Wenn du glaubst, im Recht zu sein, sollst du deinen Willen haben.«
»Das ist sehr freundlich von euch«, spöttelte der junge Tierarzt.
»Du darfst uns jedoch nicht dafür verantwortlich machen, wenn es schiefgeht. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre Tanja und würde eines Tages erfahren, dass mein Arbeitgeber mich so schmählich hintergangen hat, ich glaube, das wäre für mich ein Kündigungsgrund. Und genau das will ich verhindern. Wie du eben selbst bemerktest, mein lieber Severin, zieht es bestimmt nicht so rasch wieder jemanden zu uns in die Einsamkeit, der bereit ist, auf die Freuden der Großstadt zu verzichten. Ich glaube also, dass Tanja Seeberger ein echter Glücksfall für uns ist.«
»Das will ich gar nicht bestreiten, Großmü ... « Severin brach ab und grinste. »Du hast sicher völlig recht, liebe Lavinia«, v erbesserte er sich. »Und nun lass uns von etwas anderem sprechen. Was hältst du davon, wenn du mich auf meiner nächsten Reise begleitest?«
Noch ehe Lavinia antworten konnte, stellte Berta mit leisem Klirren die zweite Kaffeekanne auf den Tisch und zog sich dann diskret zurück.
Zwar hatte die treue Haushälterin schon seit vielen Jahren bei der Familie von Tarlton auch persönlichen Anschluss gefunden, doch sie wollte die Zuneigung ihrer Arbeitgeber nicht über Gebühr beanspruchen.
Ihr Platz - ein Platz, den sie innig liebte - war in der Küche und überall dort, wo es etwas zu arbeiten gab. Bei Familienangelegenheiten schloss sie sich meist freiwillig selbst aus, wenn sie nicht direkt gefragt wurde.
Lavinia schüttelte den Kopf. »Das ist zwar lieb gemeint, Severin«, antwortete sie traurig, »und ich würde dich auch sehr gern begleiten, doch du weißt ja, dass mein Herz in der letzten Zeit nicht besser geworden ist. Hin und wieder spielt es mir einen Streich und klopft so schnell, dass ich das Gefühl habe, ein junges, verliebtes Mädchen zu sein.« Sie lächelte ein wenig gequält.
Severin seufzte verhalten auf . Er hatte schon gemerkt, dass es seiner Großmutter manchmal ganz schön schwer fiel, ihren Rollstuhl auch nur durchs Zimmer zu bewegen. Schon deshalb war er froh darüber, endlich jemanden zu ihrer Gesellschaft und zu ihrer Pflege gefunden zu haben.
Vielleicht schaffte es Lavinia dann auch hin und wieder, mit Tanjas Unterstützung natürlich, ein paar Schritte zu gehen. Mit gutem Zureden würde es Tanja hoffentlich gelingen, die alte Dame zu motivieren und sich nicht einfach hängen zu lassen, so wie sie es in der Vergangenheit so oft getan hatte.
»Hast du schon etwas von Gloria gehört?« unterbrach Lavinia die Gedanken ihres Enkelsohns. »Wenn meine Zeitrechnung stimmt, müsste sich deine Beinahe-Verlobte jetzt irgendwo in Florida befinden. Vielleicht aalt sie sich ja gerade am Strand
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