Das Mädchen und der Schwarze Tod
Tempo vorgaben. Die Kaiserin führte den Tanz an, und bald entstand in dem langen und schmalen Saal des Danzelhuses ein rechtes Drunter und Drüber.
»Das nenne ich einen Nachttanz«, seufzte Oldesloe wohlig, als Bernt Notke sich der Gruppe von Männern zugesellte. »So ausgelassen wird hier selten gefeiert.«
Notke aber musterte die Menschen mit Abscheu. Die Fröhlichkeit hatte etwas Gezwungenes, ja Verzweifeltes. »Wie schade«, kommentierte er trocken. Wenn er Oldesloe auf die Blasiusbruderschaft bringen wollte, musste er klug vorgehen und sich dem Thema von der Seite nähern. »Lübeck hat viele muntere Handwerker«, begann er und deutete auf die Herrschaften, die hier versammelt waren.
»Handwerker?«, lachte Oldesloe kollernd. »Das sind keine Handwerker, Herr Notke. Ihr seht vor Euch einige der machtvollsten Männer und Frauen der Lübecker Ratsfamilien.« Auch die anderen Herren lachten. »Leute, mit denen Ihr Euch gut stellen solltet, wenn Ihr es hier zu etwas bringen wollt. Die Witwe Gruber zum Beispiel ist ein hervorragender Fang. Und ich glaube, sie wirft Euch Blicke zu, die bereits mehr als nur eine Einladung sind!« Der Maler sah zu der Kaiserin hinüber, die sich aus dem Reigen gelöst hatte. Gerade stopfte sie den Mund der runden Frau Gernse, die das Essen offenbar so sehr liebte, dass sie noch immer an der Tafel saß, mit gekochten Pflaumen mit Speck. Als die Gruber seinen Blick auffing, zog sie den Stoff von ihrer linken Brust und knetete sie auffordernd.
»Sie hat anscheinend noch nicht genug Verehrer«, bemerkte Bernt Notke, während sich ihm die Haare sträubten. Er zählte mindestens fünf Männer von ganz jung und ehrgeizig bis gesetzt und behäbig, die nach der angepriesenen Ware griffen. Die Spielchen dieses Banketts gerieten außer Kontrolle.
»Ihr seht nicht glücklich aus«, schmunzelte Oldesloe. »Habt Ihr etwas gegen einen harmlosen Zeitvertreib?«
»In einer Hafenkaschemme? Nein. In der Stube eines Ratsherrn? Vielleicht auch nicht. Im Rathaus zu Lübeck – mit Vergebung -, da wundert es mich schon ein wenig.«
Oldesloe trank einen Schluck Bier. »Man muss fröhlich sein«, murmelte er nun ernster und nachdenklicher. »Es lässt einen für einen Abend vergessen, was da draußen wütet.«
Notke beschloss, Öl ins Feuer zu gießen. »Auch auf Kosten von Anstand und guten Sitten?«
»Oh ja«, lächelte Oldesloe humorlos.
»Ihr haltet Tugend also für überflüssig?«
»Überflüssig? Nein. Die Tugend hält eine gesunde Gesellschaft zusammen. Aber diese Gesellschaft«, er wies um sich, »ist nicht mehr gesund.«
Mit grimmiger Freude stellte der Maler fest, dass das Gespräch von alleine in die beabsichtigte Richtung steuerte. »Das heißt, die Gesellschaft ist das Maß der Tugend? Nicht Gott der Herr?«
»Die Gesellschaft ist das Maß aller Dinge.«
»Und wenn das Ende naht, bereut Ihr dann?«
»Jene Handlungen, die ich als falsch ansehe, werde ich bereuen.«
»Habt Ihr keine Angst davor, dass Euch der Herrgott so eine berechnete Reue auf dem Sterbebett nicht abnimmt?«
»Aber was ist der Sinn, Notke?«, fragte Oldesloe mit rauer Stimme. »All das Beten und Spenden und Lesen von Messen, das Bezahlen der Vikarien und Stiften von Altären und Statuen, die Fürbitte der Heiligen, all die Enthaltsamkeit während der Pest – was hat sie für einen Sinn? Meine Frau Mathilde ging täglich zur Messe und ließ sich niemals etwas zuschulden kommen. Was ist das Resultat? Sie starb im Kindbett, als sie meiner Tochter das Leben schenkte. Doch sie ist ebenso tot wie der größte Hurenbock und Sünder. Und was sagt uns das? Wer betet und heilig ist, stirbt ebenso sicher oder unsicher wie jemand, der herumhurt und säuft.« Er breitete die Arme aus, als wolle er den Raum umfassen. »Mir ist das klar, seit Mathildeken starb. Jetzt haben diese Leute das auch endlich begriffen.«
Notke schluckte. Er war üblicherweise der Erste, der gegen die überzogenen Moralpredigten der Pfaffen wetterte, an die sie sich selbst nicht hielten. Doch mancher war schon für weniger ketzerische Reden auf dem Scheiterhaufen gelandet. Er wählte seine Worte sorgfältig. »Wer weiß schon, wie die nächste Welt aussieht? Wir wissen erst, was passiert, wenn wir darinstehen – und dann können wir an dem Ergebnis nichts mehr ändern. Ein Priester würde Euch jetzt sicher sagen, dass es für das nächste Leben sehr wohl einen Unterschied macht, wie man sein Leben lebt, Herr. Sicher, Gott entscheidet, wer wann
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