Das Mädchen und der Schwarze Tod
hohen Herrschaften der Ratsfamilien miteinander gelacht, gescherzt und geschäkert hatten. Mittlerweile war es sicher bereits nach Mitternacht. Und noch immer hatte Notke wenig Sinn für diese Gesellschaft, die mit ihrer Laune offenbar die Pest da draußen Lügen strafen wollte. Doch die Fröhlichkeit hier drinnen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesellschaft klein und viele Plätze unbesetzt waren.
Die Gedanken des Malers schweiften oft ab. Seit er heute Mittag Marike Pertzeval in seinen Armen gehalten hatte, war er ein neuer Mensch. Er hatte sie geborgen wie eine Schwalbe, die man mit gebrochenem Flügel am Hafen findet. Er hatte ihre Verzweiflung mit unsinnigen Worten, mit der Wärme seines Herzens, ja sogar ersten zarten Küssen auf den Scheitel gelindert. Sie hatte sich an ihn geklammert wie eine Ertrinkende in einem dunklen Ozean. In jenem Augenblick hatte Bernt Notke, der die Welt sonst mit kritischen Augen und einer spöttischen Zunge durchmaß, zum ersten Mal erfahren, wie es sich anfühlte, wirklich zu lieben. Als er Marike die Tränen von den Wangen gestrichen und ihr versprochen hatte, dass sie das alles gemeinsam überstehen würden, da hatte er gespürt, dass ihre Seelen einander berührten und einen festen Bund schlossen, der so leicht nicht mehr zu trennen wäre.
Als es ihr wieder etwas besser gegangen war, hatten Marike und Bernt noch ein anderes Bündnis vereinbart. Notke hatte sich bereit erklärt, das Spiel des Ratsherren Oldesloe mitzuspielen. Bei Sonnenschein im Licht ihrer Augen hatte er ihr noch mutig versichert, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Jetzt fröstelte Notke bei dem Gedanken daran, den besten Freund eines Mannes zu spielen, der dazu fähig schien, andere Leute mit einem Lächeln ermorden zu lassen.
Bei diesem Stichwort ging er die Ständefolge seines Totentanzes noch einmal durch. Heute Nachmittag hatte man den armen Krontorp in Sankt Marien an seinem Glockenseil erhängt aufgefunden. Notke hatte um den alten Trunkenbold geweint, der ihm stets willig und freundlich frühmorgens bis spätabends die Schlösser der Kirche auf- oder zugesperrt und die großen Wachhunde in Sankt Marien gezügelt hatte. Für den Totentanz bedeutete Krontorps Tod ganz nüchtern, dass die Figur des Küsters seine Entsprechung in der Wirklichkeit gefunden hatte. Der arme Krontorp musste gestorben sein, als im Hause Oldesloe der Leichenabschied von Kaufmann Prütz stattgefunden hatte. Die nächstfolgende Figur, so rief der Maler sich ins Gedächtnis, war der Handwerker. Diese Bezeichnung traf auf jeden zweiten oder dritten Mann in Lübeck zu, der ordentliche Arbeit verrichtete – aber ebenso auch auf ihn selbst. Wer genau sterben sollte, wusste nur ein einziger Mann. Seit Lynow und Nikolaus aus dem Spiel waren, würde Oldesloe selbst den nächsten Zug machen müssen. Und deshalb war Notke hier.
Eine Welle des Gelächters schreckte ihn auf, während im Hintergrund die Stadtmusiker aufspielten – ein Pfeifer, ein Lautenspieler und eine Frau mit Schellenkränzen. Die Platten auf den riesigen Tischen in der Mitte der Diele wurden noch immer geplündert. Der Maler hatte nur wenig von dem guten gehackten Stockfisch mit Safran und Petersilienwurzeln gekostet, ganz zu schweigen vom Schönroggen, Kalbs- und Lammbraten in viel Fett und Soße, Huhn, Bratheringen sowie einer Art Weinsuppe.
Notke kannte nur wenige der beinahe drei Dutzend wohlgekleideten Anwesenden persönlich, wie etwa den Flottenbefehlshaber Cornelius. Ein paar waren ihm zumindest vom Sehen vertraut, wie Bürgermeister Wittik, die meisten anderen aber gänzlich unbekannt. Die Fröhlichkeit war bereits im vollen Gange. Ein Hühnerschenkel flog dem Maler entgegen und landete an der Wand, und der junge Mann – Gerald Samer, ein sogenannter hominus novum in Lübeck, also ein Zugereister wie Notke, griff sich schon mit beiden Händen Nachschub. Frau Gernse schaufelte sich mit der Hand ofengegarte Äpfel mit Rosinen in den Mund, obwohl die Wülste ihres Leibes doch bereits an allen Enden aus dem Kleid quollen. Ihr Kinn triefte nur so vor Flüssigkeit, denn sie schien sich vorgenommen zu haben, vor ihrem Ende noch so viel in sich hineinzustopfen wie möglich. Den Mann der Frau hatte der Maler vorhin noch auf der Ratslaube dabei gestört, wie er eine andere Frau stöhnend an die Wand genagelt hatte. Es war, als wären diese Leute schon verdammt und nutzten nun die irdische Zeit, die ihnen noch bliebe, zum Sündigen. Ein Schauder
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