Das Mädchen und der Schwarze Tod
er war ein gemachter Mann. Die Aufnahme in die Sankt-Blasiusbruderschaft wäre nur der erste Schritt. Er würde den Lübeckern ein Gemälde geben, das ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließe. Er würde das Bürgerrecht erwerben, eine Familie gründen und ein echter Lübecker werden! Dann würde ihm die ganze Hanse offenstehen. Eines Tages würden seine Werke vielleicht sogar in den großen Kirchen der ganzen nördlichen Welt hängen.
Doch bevor er von Aufträgen in Stockholm, Reval und Nowgorod träumen konnte, musste er sich hier beweisen. Erst einmal wollte dieses Gemälde vollendet werden, denn der Auftrag für den Stadtrat war seine einmalige Chance. Wenn er sich hier Eindruck verschaffte, würde der Rat mit Sicherheit auf die Malerzunft einwirken, um seinen Meistertitel anerkennen zu lassen.
Bernt Notke nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich an die Arbeit. Er begann damit, den Abt fertigzustellen, da die ölhaltige Eitempera noch feucht war. Die verhärmten Züge des armen Mannes von gestern Morgen standen ihm noch genau vor Augen. So würde der arme Guardian Clemens, der vor dieser Kirche so unzeremoniell aus dem Leben gegangen war, ein Denkmal erhalten, das seine Züge auf ewig bewahrte. War nicht heute ein Ritter im Bad erstochen worden? Sosehr es ihm auch widerstreben mochte – vielleicht konnte er den Leichnam noch begutachten, um eine Ähnlichkeit herzustellen. Denn wenn er bei dem Totentanz versagte, zerplatzte seine Zukunft in Lübeck wie ein Traum im Morgengrauen.
Dieses dünne Stimmchen in Maler Notkes Hinterkopf holte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Er fürchtete mit einem Mal, dass er all seinen Träumen vom Erfolg ein jähes Ende bereiten konnte, wenn er um Marike warb. Ein Zunftmeister wie Bernt Lynow würde sicher keine Konkurrenz dulden – schon gar keine von einem unzünftigen Freimeister wie ihm. Wie gut, dass Marike selbst dabei ja auch noch ein Wörtchen mitzureden hatte.
Der KartÄuser
»Jesus Christus, erbarme dich meiner.«
Ein Rascheln im Gebüsch am Straßenrand ließ die Blätter und Zweige erbeben. Einen furchtsameren Wanderer hätte das sicher geängstigt, doch Bruder Burchart kannte die Geräusche der Tiere in Wald und Feld. Im Westen ging der Himmel langsam in einen von Grau und Rot durchzogenen Horizont über. Einige Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke und erleuchteten das Land.
Bruder Burchart hielt einen Augenblick inne und blickte zurück. Er hatte einen anstrengenden Wandertag hinter sich, seit er die Kartause Ahrensbök verlassen hatte. Der Weg nach Lübeck war nicht lang, etwa vier Stunden Marsch bei kräftigem Schritt, und Bruder Burchart war ein guter Wanderer. Er hatte am Nachmittag bereits die Non im Kreise seiner Brüder verpasst. Er hoffte, die Vesper am frühen Abend bereits im Dom feiern zu können.
»Jesus Christus, erbarme dich meiner. Jesus Christus, erbarme dich meiner. Jesus Christus, erbarme dich meiner.«
Burchart war der festen Überzeugung, dass Menschen Regeln brauchten, um sich in Gottes Schöpfung zu fügen. Man sah allerorten, dass Müßig gang die Leute verdarb: Die Folgen waren Faulheit und Vergnügungssucht, die dem Widersacher Tür und Tor zur Seele öffneten.
»Jesus Christus, erbarme dich meiner.«
Der Kartäuser trat mit der Sonne im Rücken aus dem Wald. Vor ihm ragten die sieben Türme von Lübeck, die Wahrzeichen der Stadt, hoch über die Mauern auf. Der Wettstreit der Gemeinden um die höchsten Türme war nur äußerlich ein Ausdruck von Frömmigkeit. Statt ihre eigene Sündhaftigkeit zu erkennen und sich auf die Wiederkunft Jesu Christi vorzubereiten, konzentrierten die Städter sich auf das Äußerliche, bauten leere Hülsen für einen Glauben, der sich mit Geld kaufen ließ. »Jesus Christus, erbarme dich meiner.« Das Jesusgebet flog Burchart mit jedem regelmäßigen Atemzug durch den Kopf.
Er setzte seinen Weg auf der Karrenstraße fort. Er hatte die stille Andacht seiner Kartause verlassen, da der Bischof vor etwa drei Wochen verstorben war. Obwohl die Kartause nur ihren Ordensoberen in La Chartreuse verpflichtet war, wollte Burchart doch die Gebete seiner Brüder überbringen. Gute Beziehungen zur Mutter Kirche waren von Vorteil.
Bruder Burchart schüttelte den Kopf über die dekadenten Praktiken Roms, wo vieles käuflich war, was man sich doch eigentlich mit harter Arbeit und Frömmigkeit verdienen sollte. Da in der Kirche selbst bischöfliche Ämter wie Pfründe verschachert wurden, hieß
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