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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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färbten. Vor dem Schleier der Dämmerung glühten nur noch die kraftvollsten Farben, wie etwa die Blüten einer Wildrose oder die üppige Dolde des gelben Johanniskrauts.
    Die große Hansestadt kam langsam zur Ruhe. Nirgendwo ratterten noch Fuhrwerke über das unebene Kopfsteinpflaster oder klangen Geräusche aus den Werkstätten der Handwerker. Niemand hielt sich mehr lange auf den Straßen auf, sondern strebte in der endlich kühlen Abendluft dem eigenen Heim entgegen. Nicht einmal die Bettler hielt es noch auf den großen Plätzen, und sogar die Hunde, Schweine und Hühner, die tagsüber die Gassen nach Abfällen durchstöberten, waren verschwunden. Die Bierglocke war heute bereits früh geläutet worden, und ganz Lübeck bereitete sich auf die Nacht vor. In Zeiten wie diesen lebte man bescheiden und fromm, um dem Herrn wohlgefällig zu sein.
    Das Magdalenenviertel von Lübeck, wegen der vielen Matrosen auch Seeschiffer-Viertel genannt, war ein rauer Ort. Klopfenden Herzens hastete Marike Pertzeval die Breite Straße entlang, das Klackern der Holztrippen, die sie über die weichen Lederschuhe gezogen hatte, hallte laut auf dem Pflaster. Sie hatte ihr Tuch eng um den Kopf geschlungen und schwitzte unter dem dünnen Leinen wie in einer Kochstube, obwohl die Hitze des Tages längst nachgelassen hatte. Schuldbewusst musste sie an ihren Vater denken, der sie mit Kopfschmerz im Bette wähnte. Nachts vermummt auf den Straßen unterwegs zu sein war Frauen sogar vom Rat untersagt worden, geschweige denn gar ohne Licht. Offenbar kam so etwas öfter vor, als man dachte. Marike hatte sich nie Gedanken darum gemacht, wie ein Verstoß wohl geahndet würde – und sie hoffte, sie würde es niemals herausfinden müssen. Mit einem letzten Blick versicherte sie sich, dass kein Büttel auf den Straßen unterwegs war, dann bog sie in die sich sanft gen Trave hinabschwingende Engelsgrube ein.
    An dem Eingang eines jener dicht bebauten Gänge aus einfachen Fachwerkbuden, der von der Engelsgrube tief in den Häuserblock hineinführte, wartete Lyseke Oldesloe bereits wie ein Schatten. Das feine herzförmige Gesicht leuchtete blass unter dem Kopftuch hervor.
    »Dein Vater wird uns umbringen«, flüsterte Marike der Freundin als Begrüßung zu. »Das wird er, wenn er es herausfindet«, erwiderte die Jüngere atemlos. Sie fielen einander in die Arme, um sich gegenseitig zu beruhigen. »Und wenn er es nicht tut, macht es Beichtvater Nikolaus.«
    »Du hättest nicht kommen müssen, Schwesterchen«, flüsterte Marike dankbar. Immerhin plante der Schmied Lynow etwas gegen ihren Vater, nicht gegen Lysekes.
    »Das wäre ich auch beinahe nicht«, murmelte diese und lächelte tapfer. »Dein Vater hat dich nicht erwischt?«
    Marike schüttelte den Kopf und strich der Freundin beruhigend über das Haar. »Er macht seine Aufwartungen bei den von Ulenburchs. Du weißt schon, der Herr Evert hat sich von seiner Hure im Bad erstechen lassen.« Jeder hatte von diesem Ereignis gehört, und viele hatten herzhaft darüber gelacht.
    »Du kanntest den Mann?«
    »Kaum«, bekannte Marike und schüttelte sich. »Er hat mal bei meinem Vater um meine Hand angehalten.«
    »Aber du hast abgelehnt?«
    »Das musste ich nicht. Er war so arrogant, dass Vater nicht einmal gewartet hat, bis er den Satz beendet hatte.«
    »Merkwürdig«, meinte Lyseke stirnrunzelnd.
    »Wieso? Er hat eben nicht nur Zahlen und Tabellen im Kopf.«
    »Das meine ich nicht. Erst stirbt der Herr Evert, dann Guardian Clemens. Kanntest du den nicht auch?«
    Traurig nickte Marike. »Lübeck ist halt klein. Er hat zusammen mit meiner Mutter früher Brot an die Armen verteilt. Aber das ist schon Jahre her. Clemens war ein guter Mensch.«
    »Dann wird Gott ihn sicher belohnen.«
    »Dafür bete ich.«
    Marike drückte sich an die rote Backsteinmauer des Speicherhauses. Lyseke stellte sich auf die andere Seite, sodass sich zwischen ihnen die niedrige Öffnung auftat, die sicher zehn Ellen durch das Haus hindurch in den Fachwerkgang dahinter führte. Fetzen von trunkenem Gesang, plärrenden Flöten und übermütigem Johlen drangen in der kühlen Augustluft zu ihr heraus.
    »Wollen wir das wirklich tun?«, fragte Lyseke heiser.
    Marike zögerte. Sie hatte sich bis hierher vorgewagt. Doch der wichtigste Abschnitt der nächtlichen Reise, den sie zugleich herbeisehnte und fürchtete, lag noch vor ihr: sich unter die Menschen zu mischen, von denen sie doch so wenig wusste.
    Marike dachte an den Schmied Lynow.

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