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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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Es fiel ihr schwer, das mulmige Gefühl abzuschütteln, das ihr dabei stets in den Nacken kroch. Doch sie gestand sich ein, dass ihre Befürchtungen nicht der einzige Grund waren, heute Nacht hier zu sein. Darüber hinaus trieb sie eine unstillbare Neugier auf die Welt der Fahrenden an. Sie wollte fremdländische Zigeunerprinzessinnen sehen und Tänze aus Burgund. Vielleicht würde man sich sogar Geschichten aus der weiten Welt erzählen, oder Märchen aus dem Türkenland …
    »Ja.« Sie küsste ihren Rosenkranz und ergriff Lysekes Hand. Als die kleine Freundin nickte, schritten sie vorwärts. Hand in Hand duckten sie sich nacheinander durch den dunklen schmalen Durchgang des Giebelhauses und hinein in die dahinterliegende Gasse.
    Die heruntergekommenen Fachwerkbuden des Rovershagen, die aus Holz und Lehm bestanden, hingen windschief an den Brandmauern. Die Luft war von Schweiß- und Biergeruch geschwängert und hallte von Gelächter und Zoten wider. Lübeck besaß etliche dieser schmalen Gänge, in denen sich meistens zwei lange Fachwerkbauten aus Holz und Lehm gegenüberstanden. Unter einem Dach war eine Reihe einzelner Räume von der Größe von Marikes Schlafkammer abgeteilt, in denen oft eine ganze Arbeiterfamilie wohnte. Die meisten dieser geduckten Fachwerkbauten waren nur einstöckig, selten fand sich eine weitere Reihe Unterkünfte im ersten Stock unter einem erhöhten Dach.
    Der Rovershagen schien an diesem Abend Teil eines fremden Reiches zu sein. Über den Straßengestank hatte sich der Duft von Feuer und Kräutern gelegt. Im schwachen Licht des Abends erkannte Marike voll Verwunderung, dass sich hier, in ihrer Heimatstadt, ein Vorhang aufgetan hatte, hinter dem es eine neue Welt zu entdecken gab, die zugleich fremdartig und verzaubernd war. Sicher, auf den Banketten der Kaufleute ging es bisweilen auch sehr zotig zu, doch eine solche Welt der Sinnesfreuden kannte sie nicht.
    Hier feierten jene Leute, die tagsüber bei Kaufleuten und Handwerkern schufteten. Man sah Lastträger, Seeschiffer und einfache Handwerker, von denen sicher nur die wenigsten das Bürgerrecht hatten bezahlen können. Zwischen diesen Leuten in ihren schlichten sandfarbenen oder braunen Kitteln und Tuniken fühlte sie sich selbst in ihrem alten Schlechtwetterkleid edel gewandet.
    Wenige Schritte vom Eingang entfernt schlugen einige Burschen und Mädchen in grotesk bunten und engen Kleidern Purzelbäume, zogen Grimassen oder stiegen einander an den Budenwänden auf die Schultern. Derweilen ging ein kleines schmutziges Mädchen, dessen Haar ihm wild vom Kopf abstand, mit einer Mütze herum und sammelte Münzen ein, zum Dank mit einem zahnlosen Grinsen.
    Die beiden jungen Frauen gingen weiter und sahen sich dabei neugierig um, bevor ihr Blick auf ein wundervolles Schauspiel fiel. Ein kräftiger Mann mit bloßem Oberkörper und Glatze balancierte schmale Fackeln und ließ sie in der wachsenden Dämmerung kreisen, sodass sie bezaubernde Feuerschweife beschrieben. Marike hatte beinahe den Eindruck, die Zeit verlangsame sich, während der Mann mit den Flammen so mühelos Zeichen in die Luft malte wie andere Leute auf Pergament. Ab und an steckte der Kerl die Fackeln sogar unter dem Johlen der Umstehenden in seinen Schlund und erstickte sie, nur um sich von seinem zwergenhaften Gehilfen eine neue reichen zu lassen. Schrecken und Faszination bannten Marike gleichermaßen. Lyseke klammerte sich an ihren Arm. »Das ist ja … schrecklich!«, hauchte sie erregt.
    »Der große Drakonor!«, krakeelte der Zwerg, der hier mit einer Bronzeschale herumging. »Sohn eines türkischen Prinzen und einer Drachenfrau aus dem Fernen Osten! Der einzige seiner Art, ihr Lübecker, staunt! In seinen Eingeweiden schlummert die Kraft des Feuers, die stets hervorzubrechen droht! Seht, wie er das Feuer selbst in seiner Macht hält!«
    »Sohn einer Drachenfrau?«, fragte Lyseke zweifelnd. Doch Marike zuckte nur mit den Schultern. Ob Prinz oder Bettler, die Kunst dieses Mannes war ein prächtiges Schauspiel, und die Geschichte seiner Herkunft verlieh ihm einen so mysteriösen Schleier, dass die junge Frau ehrfürchtig erschauerte.
    Bevor Marike wusste, wie ihr geschah, rammte sie eine schwankende Gestalt, sodass sie hart gegen die Balken einer Bude fiel. Ein Mann mit einem Krug voll Fusel lehnte über ihr, während ihm eine Hübscherin – die Frau mit den Vogelaugen, die am Nachmittag die Fiedel gespielt und Marike angesprochen hatte -, vor dem Bauch saß und sich

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