Das Mädchen und der Schwarze Tod
etlichen Male an diesem Vormittag des fünften Augusttages, als sie den unteren Bereich der Hundestraße erreichte. Sie bog durch das schmale Portal des großen Traufenhauses über das Grundstück der Droghes in einen Gang ein. In der einen Hand hielt sie eine weiße Rose, in der anderen den Rosenkranz, den sie beinahe beendet hatte. Sie war froh, dass seine großen und kleinen Bernsteinkugeln ihr dabei halfen, sich zu merken, welches Gebet an der Reihe war, denn ihre Gedanken drohten davonzugaloppieren. »Sancta Maria mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc, et in hora mortis nostrae. Amen.« Das vertraute Beten des Rosenkranzes gab ihr ein Gefühl von Ruhe und Alltäglichkeit. Sie wollte gerade mit dem »Ehre sei dem Vater« abschließen, da kam sie an der Rückseite des Ganges an. Hier lag ein schmaler Durchlass zu einem Kapellhof, der sich im Inneren des Häuserblockes befand.
Der kleine Hof beherbergte nur eine geduckte hölzerne Kapelle und wenige alte Gräber. Die backsteinernen Rückwände der umliegenden Häuser waren über und über mit Efeu und Brombeeren bewachsen, deren Ranken auch bereits nach vielen Gräbern gegriffen hatten. Der Hof lag fast immer im Schatten der Häuser, nur frühmorgens fiel hier Sonnenlicht ein.
Marike hielt bei dem kleinen Schrein mit den drei moosbedeckten Holzwänden inne, der nahe am Durchschlupf zu Droghes Gang stand. Unter einem Kruzifix an der Rückwand stand eine Marienstatue auf einem massiven Holzsockel, der gleichzeitig als Altar diente. Davor stand ein kleines hölzernes Kniebänkchen.
Marike kannte viele prachtvolle Darstellungen der Muttergottes, die mit Gold, Silber oder Edelsteinen verziert waren. Denen allen würde sie diese aus schlichtem Holz vorziehen, die hier in dem kleinen Hinterhof versteckt war. Das Holz war so gut gesandet worden, dass es sich unter der Berührung ganz weich anfühlte. Die Füße waren dunkel von vieler Hände respektvoller Berührung. Die Maria hielt ein Jesuskind im Arm, auf dem ihre ganze zärtliche Aufmerksamkeit ruhte. Dieser innige Blick war es, der Marike so berührte. Sie erinnerte sich nur vage an die eigene Mutter. Dieser zärtliche Blick aus Holz erweckte immerhin eine Ahnung von Geborgenheit in ihr. Pater Martin hatte Marike einmal anvertraut, dass dies die Lieblingskapelle von Lisbeth Pertzeval gewesen war, an der sie den Namen ihrer Tochter ausgewählt hatte. Seitdem kam Marike immer dann hierher, wenn sie die Wärme einer Mutter vermisste. Erstaunt fiel ihr ein, dass sich in zehn Tagen der Todestag ihrer Mutter jährte, die vor vierzehn Jahren an Mariä Himmelfahrt der Pest erlegen war.
Mit einem Kloß im Hals ließ Marike sich auf die Kniebank sinken, legte die Rose ordentlich zu Füßen der Maria und faltete die Hände über dem Paternoster. Sie bat die Muttergottes um Beistand für ihre eigene Mutter, die in jener anderen Welt weilte. Um sie herum duftete es nach einem Gemisch aus Erde, Kerzenrauch und dem Gestank von Maische aus der nahen Klosterbrauerei Sankt Katharinens. Aus den Häusern drangen gedämpfte Stimmen. Lange verharrte sie so und versuchte alles um sich herum auszublenden. Dann hob sie ihren Blick zum Kruzifix, bekreuzigte sich und entzündete einen mitgebrachten Kerzenstummel an dem Windlicht, das hier stets brannte.
»Geheiligt sei Maria voll der Gnaden«, erklang hinter ihr eine Stimme. Die junge Frau sprang auf und fuhr herum. »Du wolltest mich hier treffen?« Pater Martin war da! Sie ergriff die Hand des Kaplans und küsste sie erleichtert. Der Pater besaß einen klaren Kopf und einen scharfen Verstand. Beides benötigte sie jetzt dringend.
»Marike«, sagte Martin lächelnd, »so förmlich? Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, dass du etwas angestellt hast!« Als Marike schuldbewusst dreinsah, gefror das Lächeln auf seinem Gesicht. »Du hast …?«
Marike schüttelte heftig den Kopf. »Keine Angst, Pater, ich will keine Beichte in dem Sinne ablegen. Ich meine, ich müsste schon – aber das hat Zeit. Ich bin – ich weiß nicht … Ich brauche Eure Hilfe!«
Dieser Ort verband sie eng mit Pater Martin, der sie nach dem Tod der Mutter oft hergebracht hatte, um ihr zumindest die Ahnung von mütterlicher Nähe zu geben. Nun nahm Martin sie bei der Hand, als sei sie noch ein kleines Mädchen, geleitete sie zu einem flachen Mäuerchen und ließ sich mit ihr nieder. »Nur die Ruhe, mein Kind. Nur die Ruhe. Erzähle mir am besten alles von Anfang an.«
»Pater – ich weiß gar
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