Das Mädchen und der Schwarze Tod
mühevoll die viel zu schwere Wasserflasche zu schultern.
»Du sagtest, die Augen des Flötenspielers wirkten alt? Wie hast du das gemeint?«, fragte Martin.
»Das ist schwer zu beschreiben, Pater. Wissend. Wie eine alte Seele.«
»Wie heißt er eigentlich?«
»Wie heißt wer?«
»Der Flötenspieler. Wie heißt er? Vielleicht finden wir ja etwas über ihn heraus.«
Jetzt blieb Marike erstaunt stehen und dachte nach. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, er hat mir nie seinen Namen gesagt.«
»Das ist nicht gut. Viele Götzenkulte glauben, im Namen liegt Macht über seinen Träger. Aber vielleicht bietet sich noch eine Gelegenheit, das herauszufinden. Schau, dort ist das Hospital. Lass uns die Friedhofspforte nehmen. Bruder Anselmus ist sicher zur Pflege der Kranken im Langen Haus.«
Der massige rote Backsteinbau der Vorderfront des Heiligen-Geist-Hospitals wirkte trotz der vier darüberhin aufragenden Ziertürmchen gedrungen. Tatsächlich war der Kirchbau zur Straße nur der kleinste Teil des Hospitals. Das Lange Haus für die Kranken und Alten schloss drei Mal so groß direkt dahinter an. Auch ein Friedhof, ein Stall und ein Garten gehörten zu dem Anwesen.
Die beiden erreichten über den Kirchhof eine Seitenpforte des Langen Hauses. Die große Hospitalhalle besaß ein Holzgewölbe als Decke, das man leicht für einen umgekippten Schiffsrumpf halten konnte. Der Raum wurde in der Mitte bloß durch eine übermannshohe Holzwand getrennt, an der die Betten mit je einem Hocker und einer kleinen Truhe standen. Das Spital bot heutzutage hauptsächlich alten Leuten ein Heim, die ihren Frieden mit Gott machen wollten. Die Krankenpflege war darüber in den Hintergrund getreten. Marike fand, es roch nach alten Menschen.
Bruder Anselmus füllte einer gebeugten Frau gerade einen Schluck Branntwein ab und sah auf, als Marike und Martin auf ihn zugingen. Der rundliche Spitalmeister strich sich mit dem Ärmel seiner Robe den Schweiß von der Glatze und sah ihnen freundlich entgegen. »Marike, Pater Martin! Was gibt es denn?« Seine Stimme war leise und angenehm.
Marike straffte sich schon, doch Martin legte ihr schnell die Hand auf den Arm und kam ihr zuvor. »Ich komme mit einer etwas ungewöhnlichen Bitte zu dir, Bruder.« Er nahm den Mann beiseite. »Du beschaust doch den Leichnam von Gunther von Kirchow, nicht wahr? Hast du ihn bereits gewaschen?«
Das rundliche Gesicht Anselmus verlor sein gütiges Lächeln, als er fragend die Stirn runzelte. Marike musste selbst schmunzeln – der liebe Bruder war nicht sonderlich gut darin, seine Gefühle zu verbergen. »Gewaschen ist er. Und er hat bereits wieder ein paar gute Sachen an, sodass er für die Grablegung bereit ist. Warum fragt Ihr?« Jetzt musterte er auch Marike. Doch Martin hielt sie durch ein kurzes Drücken am Handgelenk auch dieses Mal zurück. Marike funkelte den Mann ungehalten an – glaubte er, sie könne das nicht selbst erklären?
»Es handelt sich darum, Bruder: Die Freundin von Jungfer Marike hier, Lyseke Oldesloe, ist erst jüngst mit dem Edelmann verlobt worden.«
»Oh, das wusste ich nicht. Die arme Jungfer«, sprach Anselmus leise zu Marike gewandt. »Sendet ihr meine Gebete.« Die nickte dankbar, als Martin fortfuhr. »Jungfer Lyseke ist natürlich außer sich und kann sich nicht erklären, wie es zu dem plötzlichen Tode ihres Verlobten hat kommen können. Da sie aber auch nicht ertragen würde, ihn entstellt zu sehen«, Marike spürte eine Bewegung am Arm und sah, wie Martin seine Finger hinter dem Rücken kreuzte, um mit der kleinen Notlüge davonzukommen, »hat sie nun Jungfer Marike hergesandt, um zu schauen, ob sich an dem Leichnam eine Erklärung findet. Und Jungfer Marike hat mich gebeten, sie zu begleiten.«
»Ich verstehe«, murmelte Anselmus, das Gesicht vor Mitgefühl zu einer traurigen Miene verzogen. Dann senkte er die Stimme schnell wieder. »Was für ein schreckliches, schreckliches Schicksal! Den Gemahl noch vor der Hochzeit zu verlieren! Kein Wunder, dass man sich da Gedanken macht. Das ist sehr gut von Euch«, wandte er sich an Marike. Die Kaufmannstochter nickte blass. Sie straffte sich. »Wo müssen wir denn hin?«
»Oh, wir haben es gar nicht weit.« Der Bruder deutete mit dem Finger die Lange Halle hinunter zum Kirchraum. »Der Leichnam des Herrn von Kirchow liegt in der Kirche unter den Augen der heiligen Elisabeth.« Er ging voran. Dabei warf er Marike ein mitfühlendes Lächeln zu. »Wisst Ihr,
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