Das Mädchen und der Schwarze Tod
Jungfer Marike, mit Verlust kenne ich mich ganz gut aus. Ich habe gesehen, wie die Pest damals in ganz Lübeck die Menschen in die Arme des Todes getrieben hat. Aber ich habe auch gesehen, wie sie jene zerstört hat, die damals überlebt haben. Ihr seid vermutlich zu jung, um Euch daran zu erinnern, aber wenn ich daran denke, was für ein hoffnungsfroher und munterer Kerl Euer Herr Vater früher gewesen ist – bevor ihm die Pest Eure Mutter mit zwei Söhnen, Gott sei ihrer Seele gnädig, genommen hat! Kaum einer bleibt derselbe, wenn er einen geliebten Menschen verliert.« Sie betraten den Heiligen Raum durch den Bogengang unter dem Lettner, der Langes Haus und Kirchenschiff voneinander trennte.
Marike hatte den Geistlichen noch nie so über ihren Vater und die Vergangenheit sprechen hören. Plötzlich fragte sie sich, was für ein Mensch er wohl geworden wäre, wenn er damals nicht fast die gesamte Familie verloren hätte. Und nun würde mit Lyseke dasselbe geschehen – nur dass nicht die Pest daran schuld war. »Es wird der Jungfer Oldesloe sicher helfen, den Schmerz zu verwinden, wenn ich ihr mehr über den Tod ihres Verlobten sagen kann.«
Da leuchtete das Gesicht des Bruders. »Mir ist es eine Freude, wenn ich dabei behilflich sein kann. Nun herein!« Man bekreuzigte sich ehrfürchtig mit dem bereitgestellten Weihwasser.
Die dreischiffige Kirchenhalle des Heiligen-Geist-Hospitals war weniger lang als breit. Marike hatte kaum einen Blick für die kreuzgewölbte Decke mit roten und grünen Malereien, den Bilderzug der heiligen Elisabeth auf der Lettnerwand oder gar den wunderschönen Altar, auf dem die Madonna die Gläubigen unter dem Schutzmantel ihrer Gnade barg. An der Südwand hatte man drei Leichname in Leinentüchern aufgebahrt. Zwar boten die Mauern der Kirche einen gewissen Schutz gegen die Augusthitze, doch trotzdem mischte sich ein süßlicher Verwesungsgeruch mit dem von Räucherwerk. Marike kannte den Gestank natürlich – keine Kirche war frei davon, weil die reichen Bürgersfamilien Gruften unter den Kirchen belegten. Doch als sie mit den beiden Priestern näher an die verhüllten Körper trat, schlug ihr eine solche Wolke entgegen, dass sie würgen musste und einen Ärmel vor die Nase zog. Glücklicherweise hielt Bruder Anselmus bereits bei dem ersten Tuch inne und schlug es auf.
Erleichtert entspannte Marike sich wieder. Sicher, Gunther von Kirchow sah alles andere als lebendig aus. Sein Gesicht wirkte bleich und wachsig, und der Bruder hatte ihm eine Schnur längs um Kinn und Scheitel gebunden, damit der Kiefer nicht klaffte. Doch glücklicherweise war der Leichnam noch nicht von Maden zerfressen oder entstellt. Bruder Anselmus hatte sich sogar bemüht, den sehr jungen und schönen Mann trotz des zerschlagenen Kopfes wieder ordentlich aussehen zu lassen. Marike trat näher und stellte erstaunt fest, dass von Kirchow beinahe unverletzt war. Unter einem Sturz, bei dem man zu Tode kommen konnte, hatte sie sich einen Aufprall vorgestellt, der einem die Knochen im Leib zerschmetterte. Den Ärmel fest auf die Nase gedrückt, umrundete sie den Körper vorsichtig. Die einzige Verletzung, die sie erkennen konnte, lag am Kopf. Dort fand sich eine hässliche breite Wunde, an der man wegen des Haares, des Zwielichtes und des teils immer noch daran klebenden Blutes kaum etwas erkennen konnte.
»Wie hat man ihn gefunden?«, nuschelte sie in ihren Ärmel.
»Er lag in seiner Schreibstube und hatte offenbar heftig getrunken. Er muss schlimm gestürzt sein und sich den Kopf an der Tischkante aufgeschlagen haben. Daran klebte zumindest Blut. Warum ist das wichtig?«
»In seiner Schreibstube!«, flüsterte Marike erstaunt und wechselte einen Blick mit Martin, während sie die Frage des Bruders ignorierte. Wie konnte man sich denn in seiner Schreibstube zu Tode stürzen? Widerwillig nahm sie ihren Rock mit der freien Hand zusammen, um ihn nicht zu beschmutzen, und ließ sich langsam in die Hocke nieder. So konnte sie einen besseren Blick auf die Wunde gewinnen. Pater Martin hatte inzwischen eine Kerze geholt, um das Zwielicht der Mosaikfenster im Innern der Kirche aufzuhellen.
Marike schaute fragend zu ihm auf. Er hockte sich neben sie und hielt das Licht näher an den Schädel, der so gut es ging von dem festgeklebten Blut befreit worden war. »Ich kenne mich zu wenig mit solchen Dingen aus«, murmelte er. Marike fand die Verletzung recht groß. Wenn man mit dem Schädel auf eine Kante fiel, hätte man
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