Das Mädchen und der Schwarze Tod
dann nicht eine flache lange Wunde? Hier aber schien der ganze obere Hinterkopf zermalmt.
»Die ist ja so riesig …«, murmelte Marike, doch sie verstummte unter Martins scharfem Blick. Sie hatte ganz vergessen, dass der Bruder noch anwesend war.
Martin wendete sich dem Bruder zu. »Anselmus, ist dir an dieser Wunde etwas aufgefallen?«
Der gutmütige Mann schüttelte nachdenklich den kahlen Kopf. »Na ja, wir wissen halt nicht, was wirklich vorgefallen ist. Möglich, dass er erst auf die Tischkante und dann auf dem Boden aufgeschlagen ist.«
»Was ist das?«, fragte Marike dann und wies auf die Stirn des Leichnams.
»Was?« Beide Männer beugten sich über den Kopf und sahen genauer hin.
»Da ist ein Stich. Ein kleines Loch, wie von einer Ahle oder so etwas …«
»Ah ja, da war ein kleiner Splitter, den ich herausgewaschen habe. Der wird beim Sturz auf den Boden eingedrungen sein.«
»Hatte er sonst noch Verletzungen am Körper?«, fragte Martin.
»Andere Verletzungen? Ja, wartet.« Anselmus zog das Leinentuch nun ganz vom Körper herunter. »Seine Hand ist gebrochen. Ich nehme an, er ist daraufgestürzt.« Die Finger waren geradezu zertrümmert. Marike starrte auf die langen, feingliedrigen Finger. Nun waren sie zerstört, und sie würden nie wieder verheilen. Und das hatte ein Mensch getan, der dieses Leben, so wie es aussah, mutwillig vernichtet hatte. Erst jetzt sickerte die wahre Bedeutung des Todes von Gunther von Kirchow zu ihr durch. Er war fort. Nie wieder würde er seine Hand bewundernd über Lysekes Stickwerk gleiten lassen oder, die perfekte Verkörperung eines adligen Kavaliers, mit einem neuen Falken prahlen. Er würde nicht gemeinsam mit der Freundin alt werden.
Marike spürte, wie ihr bei dieser Einsicht das Blut aus dem Kopf sackte. Schwach sprang sie auf und taumelte zur Seitenpforte, die zum Friedhof führte. Den Ärmel hielt sie fest auf die Nase gepresst, um das Schluchzen, das in ihrer Brust lauerte, zurückzuhalten. Endlich war sie draußen an der frischen Luft und hatte noch genug Verstand, sich eine Ecke zu suchen, als der Brechreiz in ihrem Magen so stark wurde, dass sie ihn nicht mehr unterdrücken konnte. Sie übergab sich und schlang die Arme fest um den Leib.
Als sie sich wieder beruhigte, wusste sie kaum, wie viel Zeit vergangen war. Pater Martin hielt sie im Arm und wiegte sie leicht hin und her. Als er merkte, dass Marike sich regte, lockerte er den Griff ein wenig und sah ihr ins Gesicht. »Nur gut, dass Lyseke das nicht sehen musste.« Marike nickte. Das war ein Gedanke, an dem sie sich festhalten konnte. Die Leichen wurden zwar üblicherweise im Haus der Angehörigen oder der zugehörigen Kirche aufgebahrt, damit man sich verabschieden konnte, doch die Wunden wurden dabei verdeckt. »Ja. Das hätte sie vernichtet«, erwiderte sie, innerlich schon wieder ruhiger. »Ich habe sie noch nie so gesehen, Pater! Sie war voll Hass und Verbitterung.«
Der Pater schwieg. Sie fühlte sich wieder wie ein kleines Kind, das in den Armen des Vaters Schutz und Sicherheit findet. Wie gerne wollte sie ewig so geborgen bleiben! Doch schließlich löste sie sich von Martin und fragte mit einem schiefen Lächeln: »Müsstet Ihr mir nicht eigentlich sagen, dass schon alles wieder gut wird? Dass Lyseke darüber wegkommt und der Herr alles richtet?«
Der Pater nickte. »Das sollte ich vielleicht. Aber du bist zu klug, als dass ich dich noch anlügen könnte.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, ob alles wieder gut wird, Marike – manche Dinge werden es, aber viele auch nicht. So hat Gott die Welt geschaffen. Er sendet uns nicht nur Freuden, sondern auch Leid.« Als die beiden sich gerade wieder erhoben, steckte Bruder Anselmus besorgt den Kopf aus der Kirchentür. »Geht es Euch wohl?« Marike nickte dankbar.
Der rundliche Arzt schob sich nun ganz zur Tür heraus. Er blickte erst Martin, dann Marike ernst an. »Wollt ihr mir nun sagen, was euch wirklich hergetrieben hat? Ihr könnt es auch lassen. Doch dann rechnet nicht mehr mit meiner Güte.« Marike wechselte einen Blick mit Martin. Sie mussten ihm die Wahrheit sagen, denn sie brauchten seine Hilfe.
»Bruder …«, begann Martin, doch dieses Mal unterbrach Marike ihn. »Bruder Anselmus, bitte vergebt uns unser Misstrauen. Doch Ihr werdet gleich verstehen, warum wir so vorsichtig sein mussten.«
Der sonst so freundliche glatzköpfige Priester wiegte skeptisch den Kopf hin und her. »Das lasst besser mich entscheiden.«
Marike nickte, sah
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