Das Mädchen und der Zauberer
daß Alice alles ihrer Großmutter Danielle wiedererzählen würde, sagte Jules feierlich: »Ich war auf einer fernen Insel, um ein neues, ungeheuer wirksames Zauberkraut zu holen. Wenn man es kocht und seinen Sud trinkt, hört man die Tiere sprechen. Ich hab's erlebt, ein Schluck, und der Hund, der vor mir saß, sagte zu mir: ›Ich bin Alain Séquier, Steuermann der Sainte Jeanette. Bei der Schlacht bei Les Saintes gegen die Engländer bin ich mit meinem Schiff versenkt worden. Am 12. April 1792, um elf Uhr vormittags.‹ – Ja, das hat der Hund zu mir gesagt. Ein wirklicher Zaubersaft ist es, Alice.«
Er ließ die sprachlose Schöne stehen, nahm seinen kleinen Koffer und ging zu Fuß aus dem Hafen, am Park La Savane entlang, und hielt erst an, als er auf der herrlichen Promenade der Baie des Flamands stand und die Quais erreicht hatte, von denen die Ausflugsboote und die Pendelschiffe zur Halbinsel Trois-Ilets abfuhren. An einem runden Tischchen vor einem Café am Boulevard Alfassa saß Josephine Cadette und sah ihrem Onkel wütend entgegen. Daß sie vor Wut fast zersprang, sah er an dem aufgeregten Wippen ihrer Beine. Josephine hatte sich außerdem verkleidet … sie trug einen grellgrünen kreolischen Turban, enge weiße Jeans, eine knappe rote Bluse, und ihr Gesicht wurde fast völlig von einer großen, dunklen Sonnenbrille verdeckt.
»Sie lebt noch!« sagte sie ohne Begrüßung, als sich Jules neben ihr auf den Stuhl niederließ. »Ich habe sie von Bord gehen sehen.«
»Es wird nicht mehr lange sein, Josephine.«
»Warum lebt sie noch? Wo ist dein Zauber? Ist dein Voodoo-Stock nur ein dürres, altes, dummes Holz?«
»Er hat nicht gewirkt. Ich weiß nicht, warum.«
»Die blonden Haare! Sicherlich sind es ihre blonden Haare, die den Zauber vertreiben.« Sie trank ihren Kaffee, in den sie ein wenig leichten, weißen Rum geschüttet hatte, und blickte über den Boulevard und auf die beiden Landungsbrücken für den Ausflugsverkehr. Das Pendelboot von Trois-Ilets hatte angelegt, die Menschen drängten über den kleinen Steg auf die überdachte Brücke. Unter ihnen war auch ein blonder Mann in Jeans und einem roten Ringelhemd, der eine zusammengeklappte Staffelei mit sich schleppte und einen länglichen flachen Holzkoffer mit Palette, Pinseln und Farben. Er schlenderte hinter den eilig laufenden Menschen her; für ihn war Zeit kein Problem.
»Du mußt einen Fetisch mit blonden Haaren machen, Onkel Jules. Und sie mit dem Blut des Opferhahns rot färben. Ob das hilft?«
»Ich fürchte, das reicht nicht aus.« Jules stützte sich auf seinen Voodoo-Stock und atmete ein paarmal tief auf. »Der Geist, der sie vernichten soll, muß ein größeres Opfer haben.«
»Einen … einen Hammel?«
»Nein.«
»Einen Menschen …?«
»Vielleicht.« Jules schloß die Augen. »Ich werde die Götter fragen, was ihnen gefällt. Die Zeit treibt uns nicht, Josephine. Sie ist auf der Insel, sie kann nicht weglaufen. Sie ist eine Gefangene. Wir können sie in Ruhe und mit Hilfe der Geister vernichten.« Er öffnete die Augen wieder und sah Josephine an. »René auch?«
»Nein! Ihn nicht, Onkel Jules.« Sie legte die langen, schmalen, schönen Hände mit den grellrot lackierten Nägeln zusammen. »Laß ihn leben. Er gehört mir. Ich liebe ihn doch.«
Jean Aubin hatte sie schon den ganzen Tag beobachtet. Sie war mit dem Boot hinüber zum Pointe du Bout gekommen, hatte am Yachthafen auf ihrem dicken roten Rucksack gesessen und die herrlichen Segel- und Motorboote angeblickt, war dann, den Rucksack mit dem leichtmetallenen Tragegestell auf dem Rücken, die Straße hinabgewandert, hatte die Geschäfte in dem Einkaufszentrum Patio de la Marina angesehen und dann den Weg zur Bucht von Mitan eingeschlagen, um am gelbweißen, blendenden Sand des Strandes, unterhalb des Luxus-Hotels Bakoua, ihr Gepäck wieder abzuwerfen. Sie zog sich aus, völlig ungeniert, war einen Moment völlig nackt, schlüpfte dann in einen Bikini und ging in das tiefblaue Meer.
Aubin, der unter einem Kasuarine-Baum Platz genommen hatte, pfiff leise durch die Zähne, als das Mädchen so ungeniert herumlief, sah ihr dann zu, wie sie mühelos und elegant durch das Meer schwamm, nach ungefähr zwanzig Minuten wieder an Land kam, sich mit einem Frotteetuch aus dem Rucksack abtrocknete, das Bikini-Oberteil ablegte und sich zum Sonnenbad hinlegte.
Jeder Maler hätte jetzt zum Skizzenblock gegriffen. Aubin tat es auch, zeichnete die schönen Körperformen ab, dazu die
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