Das Mädchen und die Herzogin
sie eine maßlose Angst. Was war hier geschehen? Wo war ihr Kind?
Vom Stockwerk unterhalb hörte sie aufgeregte Stimmen, und sie rannte die Stiege hinunter. Auf dem untersten Absatz hockte ein behelmter Mann in halbem Harnisch. Marie fuhr der Schreck in die Glieder: Es war einer ihrer Türwärter. Bevor sie sich verstecken konnte, hatte er sie entdeckt.
«Brauchst nicht wegrennen.» Er grinste. «Du bist frei.»
Marie glaubte sich verhört zu haben und blieb reglos stehen.
«Hast du nicht verstanden? Du kannst gehen.»
«Was – was ist hier geschehen?»
«Dein nächtlicher Freier ist in die Acht erklärt. Du wirst ihn doch wohl nicht vermissen? Ich würd dir schon aushelfen in deiner Not.» Er erhob sich und griff Marie mit beiden Händen an die Brüste. «Herrliche Dinger hast du da, seitdem der Herzogsbastard auf der Welt ist.»
Mit aller Kraft stieß sie ihn von sich und rannte durch die unbewachte Flügeltür in die Gemächer. Das musste das Frauenzimmer sein, konnte sie doch bis auf ein paar Knaben und einem müßig herumstehenden Wächter nur Frauen und Mädchen ausmachen. Alle waren sie in heller Aufregung.
«Wo ist Rosina? Wo ist mein Sohn?», rief sie.
«Schrei nicht so rum! Rosina ist auf und davon.» Eine vornehm gewandete Frau betrachtete sie verächtlich. «Bist wohl die Hure vom Dach oben?»
Marie ballte die Fäuste. «Wo ist mein Sohn?», wiederholte sie.
«Willst sagen: der Balg des Herzogs. Ein hübsches Kerlchen. Hätte ich unserm Ulrich gar nicht zugetraut.»
«Wo ist er?» Marie musste an sich halten, die Frau nicht zu packen und zu schütteln. Da zupfte sie eine Jungfer, etwas jünger als sie selbst, am Rock.
«Den kleinen Heinrich hat man fortgebracht. Zusammen mit dem Thronfolger und dem Fräulein Anna.»
«Bitte, gnädiges Fräulein!» Marie sank auf die Knie. «Sagt mir, wo er ist.»
«Der Herzog hat seine Kinder in Sicherheit bringen lassen, gestern Abend schon. Jetzt, wo er doch in der Reichsacht steht. Auf die Feste Hohentübingen.»
«Auf eine Festung?»
Die Jungfer nickte. «Er hat Angst, dass die Herzogin sie entführen lässt.»
«Dann muss ich zum Herzog. Ich flehe Euch an, bringt mich zu ihm.»
«Der ist weg. Mit seinem Heer an die Landesgrenze. Er will wohl gegen die Baiern gehen, die sich dort sammeln.»
Das Mädchen wurde zur Seite geschoben, und die vornehme Dame baute sich vor Marie auf. «Genug geschwatzt.Verschwinde jetzt. Wir wollen dich hier nicht mehr sehen, elende Hübschlerin.»
Sie gab dem Wärter einen Wink, und der drehte Marie grob den Arm auf den Rücken.
«Lasst mich los!»
«Halt’s Maul und geh!»
Wenig später stand sie unter einem wolkenverhangenen Himmel vor dem äußeren Burgtor und konnte es immer noch nicht fassen. Sie war in Freiheit, nach fast einem Jahr Gefangenschaft. Doch was nutzte ihr das? Sie hatte alles verloren, was ihr lieb war.
Endlich hatte der Kaiser die Reichsacht über den Mörder Hans von Huttens ausgesprochen und Achtbriefe an alle wirtembergischen Städte versandt, in denen er ihnen mit Krieg drohte, sollten sie ihren Herzog weiterhin unterstützen. Es sei denn, Ulrich willigte ein, für sechs Jahre auf das Regiment zu verzichten und eine Vakanzregierung unter kaiserlicher Ägide anzuerkennen sowie die Familie Hutten mit einer beträchtlichen Entschädigungssumme abzufinden. Dann müsste Ulrich nicht außer Landes und wäre aus der Acht und Aberacht gnädiglich absolviert.
Die Menschen auf der Straße und in den Schankstuben sprachen über nichts anderes mehr. Die einen zogen sorgenvoll die Stirn kraus, die anderen begannen Wetten abzuschließen, ob ihr Herzog einlenken würde oder nicht.
All das bekam Marie nur am Rande mit, während sie auf dem Weg nach Tübingen war, mit nichts als dem, was sie auf dem Leib trug. In dem hübschen rostroten Kleid mit Halskrause sah sie aus wie eine Edeljungfer. Verbittert dachte sie an all die Kostbarkeiten und Kleinodien, die ihr der Herzog einst geschenkt hatte und die sich das Gesinde frech unterden Nagel gerissen hatte. Dabei hätte sie diese Schätze jetzt mehr denn je brauchen können, als Bestechungsmittel, um an ihr Kind zu kommen. Nun musste sie es aus eigener Kraft versuchen.
Am frühen Abend erreichte sie die Mauern der ehrwürdigen Universitätsstadt. Sie nutzte die Unaufmerksamkeit der Torwächter, die einen einfahrenden Wagen überprüften, und schlüpfte unbemerkt durch den Torbogen. Sie war am Ziel ihrer Reise. Doch nachdem sie die winkligen Gassen
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