Das Mädchen und die Herzogin
und wenn ihre Gedanken in die Ferne schweiften, dann zu ihren Kindern, für die sie jeden Morgen und jeden Abend betete. Von Dietrich hatte sie nie wieder gehört. Vielleicht schrieb er ihr ja und Wilhelm ließ seine Briefe abfangen, vielleicht aber hatte er sich tatsächlich mit einer der kaiserlichen Hofjungfern verlobt, wie es ihr Wilhelm voller Häme zugetragen hatte. Was machte das schon für einen Unterschied?
Doch eines Morgens, sie hatte eben die Bibel auf ihr Schreibpult gelegt, brachte ein Kurier ihr eine Depesche. Sie kam von Eck, vom Augsburger Reichstag. Eilig überflog sie die wenigen Zeilen, dann ließ sie das Blatt sinken und schloss die Augen. Ihr Oheim hatte erneut die Reichsacht über Ulrich verhängt. Diesmal war es endgültig. Der Kaiser werde alles in die Wege leiten, schrieb Eck, damit ihr Sohn Christoph als rechtmäßiger Thronerbe alsbald das Herzogtum übernehme, unter Vormundschaft vorerst, und sie in die wirtembergische Residenz Stuttgart zurückkehren könne.
Das glückliche Ende war in Sicht!
Aber noch bevor Kaiser Maximilian weitere Schritte gegen Ulrich unternehmen konnte, starb er im Januar an einem plötzlichen Anfall von Roter Ruhr. Das Reich war wie erstarrt: Der Kaiser hatte versäumt, seine Nachfolge zu regeln, Deutschland hatte keinen König, das Heilige Römische Reich keinen Kaiser mehr.
Wie an allen Fürstenhöfen im Reich wurde auch in München die Totenfeier für seine Majestät mit einem symbolischen Leichenbegängnis zelebriert. Sabina wich nicht von der Seiteihrer Mutter, die zu schwach gewesen war, um die lange Reise zur Beisetzung in der Wiener Neustadt anzutreten. Jetzt brauchte die gebrechliche alte Frau Trost und Beistand, denn Kunigunde hatte ihren Bruder über alles geliebt. Dass sie deshalb ebenfalls der Beerdigung in Wien fernbleiben musste, war Sabina nur allzu recht, schon allein, um nicht Dietrich über den Weg zu laufen.
Am dritten Tag der Feiern hatte sie ihre Mutter zurück ins Seelhaus gebracht und hielt gerade mit ihr die Abendandacht, als Wilhelm hereingestürmt kam.
«Der Wirtemberger marschiert gegen Reutlingen auf!»
«Dieser Wahnsinnige!» Kunigunde sah ihren Sohn fassungslos an. «Das ist Landfriedensbruch. Reutlingen ist freie Reichsstadt.»
«Das wird ihm das Genick brechen.» Wilhelm feixte und rieb sich die Hände. «Unser Bundesheer steht jetzt bereit zum Krieg, wir haben die besten Kämpfer und Feldherrn auf unserer Seite. Morgen früh breche ich auf. Gebt mir Euren Segen, liebe Frau Mutter, auf dass wir diese Schmeißfliege nun endgültig aus der Welt schaffen.»
33
«Vater unser – Reutling ist unser! Der du bist in den Himmeln – Gmünd und Essling wolln wir auch bald gewinnen –»
Zum zigsten Male grölten die Männer rund um das Lagerfeuer ihre jämmerlich gereimte Spottversion des Vaterunsers und brachen nach jedem Vers in Gelächter aus. Die meisten von ihnen hatten die wettergegerbten Gesichter der Landbevölkerung, einige waren blutjung. Neben einem letzten Rest von Getreuen des Hofes hatten sich nun auch etliche Bauern und Handwerksgesellen auf Ulrichs Seite geschlagen – selbst Männer, die aus der Verbannung zurückgekehrt waren oder ein Brandmal auf der Stirn trugen. Schon immer schienen sie die Schuld für alles Übel im Land bei der verhassten bürgerlichen Ehrbarkeit gesehen zu haben, bei den reichen Hansen, die sich dem jungen Herzog als falsche Ratgeber angedient hatten.
Vitus hielt sich abseits der fröhlichen Zecher. In einen dicken Mantel gehüllt, versuchte er, der Kälte dieser Märznacht zu trotzen. Zum Schlafenlegen war er nicht müde genug.
«He, alter Griesgram.» Sein Freund Enderlin schlug ihm gegen die Schulter. «Komm endlich und hock dich zu uns.»
«Keine Lust.»
«Sag bloß, du hängst immer noch Marie nach. Himmel Sakra! Schöne Weiber gibt’s in jedem Dorf. Außerdem – hast du nicht deine Hedwig, die daheim auf dich wartet?»
Vitus verzog das Gesicht. «Lass mich in Ruh.»
Marie. Enderlin hätte ihren Namen nicht erwähnen dürfen. War das Kind tatsächlich von ihm? Oder wollte sie ihm den Bastard vom Pfarrer unterschieben? Gewiss, sie waren einmal, ein einziges Mal nur, beieinander gelegen. Damals, im Wald. Wenn er nur daran dachte, stach es ihm ins Herz. Aber warum hätte Maries Vetter ihn anlügen sollen? Warum nur hätte Marie sonst vor ihm weglaufen sollen? Warum?
Wieder sah er sie vor sich, wie sie plötzlich auf dem Stuttgarter Marktplatz aus der Menschenmenge vor
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