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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
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Neben Großmutter Antonia und Großvater Araiba war sie mein größtes Vorbild. Erst heute ist mir bewusst, dass sie mich in meiner frühen Kindheit wohl stärker prägte als jeder andere Mensch. Viele Jahre später erzählte mir Araiba, dass Sylvia schon nach unserer allerersten Begegnung im Dorf ihre Entscheidung gefällt hatte.
    »D ieses olymo pitiko nümölö, dieses winzige kleine Mädchen da, will ich unbedingt haben.« Antonia und Araiba, denen ich ein wenig schüchtern erschien, rieten ihr, sich mir vorsichtig zu nähern. So wie einem wilden Tier, von dem man nicht weiß, ob es aus lauter Angst gleich wieder fortlaufen wird.
    »I ch werde bestimmt ganz lieb zu ihr sein und sie beschützen und mich um sie kümmern.«
    »V ersprichst du es?«, fragte Antonia.
    Sylvia, damals gerade fünf Jahre alt, war es ernst: »B ei allem, was mir wichtig ist.«
    Araiba klopfte sich auf seine dünnen Schenkel und lachte, als er mir das erzählte. »U nd ihr Amt als Patin hat sie wirklich sehr ernst genommen!«
    Sylvia war Beschützerin, geduldige Freundin und gleichzeitig Lehrerin. Aparai dürfte ich auch deshalb so gut gelernt haben, weil sie so lange und unter viel Gelächter und ermutigenden Worten meine Aussprache korrigierte, bis sie ihrer Ansicht nach perfekt war. Hatte ich einen Stachel im Zeh, lief ich zu Sylvia und bat um Hilfe. Gab es etwas Leckeres zum Essen, legte sie eine Portion für mich beiseite, zur Not halbierte sie ihren eigenen Anteil. Ich bemühte mich nach Kräften, ihr nachzueifern, wobei mir klar war, dass ich sie nie einholen würde. Sie war selbstbewusst und gleichzeitig selbstlos. Humorvoll, aber nicht albern. All diese Attribute hatten auch bei unserem Wiedersehen nach zwanzig Jahren noch ihre Gültigkeit. Und die Art, wie sie ihre fünf Kinder erzog, erinnerte mich daran, wie sie mich als Kind umsorgt hatte.
    Ich weiß noch, wie stolz Sylvia auf ihre neue Mekku-Mekku -Kette war. Eine Art kleines Collier, gefertigt aus den Zähnen eines Kapuzineräffchens. Kleine rot-weiße Perlen, abwechselnd aufgefädelt, unterbrochen von jeweils einem Affenzahn. Die Fertigung einer solchen Kette war schwierig, schließlich musste durch jede Zahnwurzel vorsichtig ein Loch gebohrt werden, damit ein dünner Baumwollfaden hindurchpasste. War das Loch zu klein, ging der Faden gar nicht erst hindurch, war es zu groß, konnte die Zahnperle leicht brechen. Ganz sicher habe ich die Kette um Sylvias Hals mit glänzenden Augen bewundert. Nie jedoch hätte ich es gewagt, sie darum zu bitten.
    Eines Tages war ich beim Baden unten am Fluss. Meine Chinelas, meine brasilianischen Flipflops, hatte ich etwas oberhalb auf einem Felsen deponiert, ebenso mein Wäju. Als ich triefend aus dem Wasser stieg, sah ich, dass etwas auf dem Lendenschurz lag. Sylvias Affenzahnkette! Wie um alles in der Welt war die dahin gekommen? Ich blickte mich um, doch Sylvia war nirgends zu sehen. Außerdem hätte sie die Kette zum Schwimmen auch anbehalten können. Wahrscheinlich wieder einer von Mikulus Streichen. Mikulu war für jeden Blödsinn zu haben und nie um einen Einfall verlegen, wenn es darum ging, andere zu foppen. Keiner konnte ihm wirklich lange böse sein, weil er sich auch bestens über sich selbst lustig machen konnte. Eine Gabe, die auf viele Aparai zutrifft. Selbstironie schützt nach ihrer Meinung vor Überheblichkeit.
    Hoffentlich hat Sylvia noch nicht bemerkt, dass ihre Kette Beine bekommen hat, dachte ich, als ich mich auf den Weg zu Antonias Hütte machte. Als ich dort ankam, sah ich Sylvia in einen fröhlichen Schwatz mit Antonia vertieft auf dem Boden sitzen, als wäre nichts geschehen. Den Jolokos, den Urwaldgeistern sei dank, sie vermisste ihre Kette noch nicht.
    »H ier, die hab ich unten am Fluss gefunden«, sagte ich und hielt Sylvia mit ausgestrecktem Arm die Kette vor die Nase. Ich hoffte, sie würde nicht mich verdächtigen. Sylvia nahm die Kette mit einem Lächeln entgegen, stand auf – und legte sie mir um den Hals. Ich war sprachlos.
    »A ber das ist doch deine Kette!«
    »J etzt gehört sie dir«, meinte Sylvia nur. Sie selbst hatte die kostbare Kette auf mein Wäju gelegt. Antonia kicherte leise.
    Für meine Eltern muss es ein beruhigendes Gefühl gewesen sein, dass ich bei den Kindern von Mashipurimo in bester Gesellschaft war. Besonders bei Sylvia, diesem kleinen Aparai-Mädchen mit dem kurz geschnittenen Pony und den gutmütigen Mandelaugen. Einem so vernünftigen Kind konnten sie ohne Bedenken ihr

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