Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
nehmen. Nicht, wenn sie noch jung sind, und erst recht nicht, wenn sie alt sind«, sagte Antonia mit einem Blick auf ihren Mann. Araiba unterbrach seine Arbeit und schaute mit gespielter Empörung zu seiner Frau hinüber, die vorgab, seinen Blick nicht zu bemerken. Dann schabte er mit einem Grinsen im Gesicht weiter an einem rötlichen Holzstück herum. Er arbeitete fieberhaft an seinem neuen Sitzbänkchen. Hocker für den Alltag wurden aus einem einfachen rechteckigen Holzblock gefertigt, der an der Unterseite bogenförmig ausgehöhlt wurde. Sitzbänkchen für hohe Feiertage hatten hingegen die Form eines mythischen Tieres. Manche Bänkchen erinnerten an einen Adler, andere glichen einer Schildkröte oder einem Jaguar. Wenn sie endlich fertig geschnitzt waren, wurden sie noch farbig bemalt. Gemeinsam mit Großvater Araiba gingen wir auf die Suche nach dem Roteisenstein, den er anschließend mit Felsbrocken zerteilte und zwischen zwei gleich großen Steinen zu Pulver zermahlte. Das feine Steinpulver wurde zusammen mit einer Baumrindenart zu einer braunroten Farbe verkocht. Die Farbe Schwarz wiederum wurde aus Ruß hergestellt. Es hatte etwas Magisches, wenn wir Araiba bei der Herstellung der verschiedenen Farben zusehen konnten.
Unvermittelt tauchte Koi hinter Araiba auf. »W as macht ihr?« Araiba strahlte sie an, während Antonia das Gesicht verzog. »S icher wirst du daheim zum Essen erwartet«, meinte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »D u kannst auch gleich mit uns essen, wenn du magst«, sagte Sylvia versöhnlich. »H eute ist genug für alle da.« Koi trollte sich dankend, nachdem wir uns für den Nachmittag zum Perlenauffädeln verabredet hatten. Antonia war von Kois Auftritt nicht begeistert. Ihrer Meinung nach hätte sie den Alten gegenüber mehr Ehrfurcht zeigen müssen und nicht so hereinplatzen dürfen. Aber Koi war nun einmal ganz anders als Sylvia. Mit ihrem frechen Kurzhaarschnitt, dem spitzbübischen Lächeln und ihrem drahtigen Körper war sie anmutig wie eine junge Raubkatze – und ebenso unberechenbar. In ihren Bewegungen viel schneller als Sylvia und ich, war sie auch an Schlagfertigkeit kaum zu überbieten. Koi strotzte vor Selbstbewusstsein, wohl auch deshalb, weil sie von ihrer Familie vergöttert wurde. Tante Malina wurde nicht müde zu betonen, wie hübsch und gelenkig und schlau ihre Tochter doch sei. Sogar Pulupulu, Großmutter Schildkröte, verwöhnte Koi nach Kräften. Sie war die Erstfrau von Kois Vater Kulapalewa, dem diese ebenfalls auf der Nase herumtanzte. Nur eine Frau am ganzen Fluss war noch schlagfertiger als meine Freundin: Antonia. Vielleicht kamen die beiden deshalb nicht immer so gut zurande. Koi schaffte es, mit einer gezielten witzigen Bemerkung während unserer abendlichen Runden am Lagerfeuer alle zum Lachen zu bringen. Darin war sie kaum zu übertreffen. Selbst große Krieger, die aus den Nachbardörfern nach Mashipurimo zu Besuch kamen, waren von ihrer spitzen Zunge und ihrem Scharfsinn beeindruckt. Kluge Bemerkungen zu machen, war aber eigentlich Antonias Part. Man könnte fast sagen, dass ihr Koi hin und wieder die Schau stahl. Die beiden waren sich, obwohl nur entfernt miteinander verwandt, einfach zu ähnlich. Beide konnten theatralisch werden, wenn es darum ging, den eigenen Willen durchzusetzen, und beide konnten so schnell sprechen und Zusammenhänge erfassen, dass allen anderen schon bald die Argumente ausgingen. Wenn das nicht ausreichte, setzte Koi obendrein gezielt ihren Charme ein. Antonia wäre so etwas nicht im Traum eingefallen. Sosehr ich Antonia liebte und ihren weichen Kern unter der rauen Schale kannte – charmant war sie weniger, dafür direkt, grundehrlich und ungemein klug.
Was Schadenfreude betraf, war Koi ebenfalls nicht zu überbieten. Zum Beispiel dann, wenn ich für etwas verdächtigt wurde, was sie ausgefressen hatte. Koi, die auf Knopfdruck eine heilige Unschuldsmiene aufsetzen konnte, während man mir immer mein schlechtes Gewissen an der Nasenspitze ansah: »I hhhiiihiii, ich lach mich schief. Die glauben, du hättest das ganze Fladenbrot alleine aufgegessen, dabei habe ich es an die Hunde verfüttert!« Koi hatte heimlich ein fast wagenradgroßes Wöi vom Trockengestell gemopst, es an einen dünnen Baumwollfaden gebunden und sich anschließend hinter den Büschen versteckt. Wenn jemand vorbeikam und sich nach dem Brot bückte, hüpfte es wie von Geisterhand weg.
Ein typischer Koi-Streich. Dass sie das schmutzige Brot anschließend
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