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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
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Töchterchen anvertrauen. Zumal Großmutter Antonia aus dem Hintergrund über uns wachte – und deren Adleraugen entging garantiert nie etwas. Für mich war es ein großes Glück, dass ich unter der Obhut meiner Patenschwester auch ohne Erwachsene durchs Dorf und zum Fluss stromern durfte. Dass wir später, als ich etwas größer war, manchmal tief in den Urwald hineingingen, um Kakaobohnen, Lianen oder Maden zu suchen, erzählten wir meinen Eltern besser nicht. Die Abenteuer, die wir dort erlebten, vertraute ich nur Antonia an, die nie schimpfte, solange man die Karten auf den Tisch legte. Die aber ausrasten konnte, wenn einer es wagte, eine grobe Ungerechtigkeit zu begehen, oder sie anlog. Ein Urwaldgewitter war nichts dagegen.
    Meine Patenschwestern
     
    Sylvia und ihr großer Bruder Inaina waren als Waisen nach Mashipurimo gekommen. Ihre Eltern waren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen; über das, was genau passiert war, sprachen sie allerdings nie. Nun wuchsen sie bei ihren Großeltern Antonia und Araiba auf.
    Ihren europäischen Namen verdankte Sylvia einem besonderen Umstand. Bei den Aparai war es üblich, dass Eltern für ihre Kinder einen traditionellen Namen aussuchten, der nur im Verborgenen genannt werden durfte. Meist handelte es sich dabei um den Namen eines bereits verstorbenen Vorfahren oder eines mächtigen Zauberers. Manche Kinder wurden auch nach einem Tier oder einer Eigenschaft benannt. Daneben gab es einen Rufnamen, der in der Regel von einem Namenspaten verliehen wurde. Diese Patenschaft gilt als besonders große Ehre, schließlich bleibt der Namensgeber zeitlebens mit der betreffenden Person verbunden. Antonia und Araiba hatten meine Eltern während eines früheren Amazonasaufenthalts zu Namenspaten für ihre Enkelin auserkoren, eine Geste tiefer Verbundenheit. Sylvia wurde nach einer Tante in Deutschland benannt; meine Eltern meinten, das Aparai-Mädchen sehe so ähnlich aus wie besagte Tante in Kindertagen. Ich selbst kannte Sylvia nur unter ihrem »d eutschen« Rufnamen, ihr alter Aparai-Name blieb mir verborgen.
    Sylvia war für mich der Fels in der Brandung. Stand ein wichtiges Fest bevor, staffierte meine Patenschwester mich aus. Doch so groß ihre Geduld auch sonst mit mir war, bei offiziellen Anlässen konnte sie gnadenlos sein. Es gab kein Entrinnen vor ihrem kritischen Blick. Waren die Beinfransen auch ordentlich angelegt? Stimmte die Bemalung? Die feinen schwarzen Linien des Kurupo hatte sie zuvor behutsam mit einem betörend duftenden Rosenholzstäbchen auf mein Gesicht, meine Arme oder Beine aufgetragen. Anfangs noch unsichtbar, verwandelten sich die zarten Linien aus Pflanzensaft rund acht Stunden später in ein tiefes Schwarz, das beinahe eine Woche lang auf der Haut hielt. Eine temporäre Tätowierung. Sylvia zupfte so lange an mir herum, bis auch mein Lendenschurz richtig saß. »N ein, nicht das aus Stoff, Katarischi, hol das mit dem Kaikuschi -Muster, das die alte Peputo für dich geknüpft hat.« Dieses charakteristische »M uster des Hundes« ähnelte gleichzeitig dem Symbol des Jaguars, Kaikuschi-Kapauimano. Der Hund war seit jeher ein getreuer Weggefährte der Menschen, die Wildkatze stand für Mut und Kraft.
    Sylvia wachte streng darüber, dass ich bei Festen oder wenn Besucher da waren, einen guten Eindruck hinterließ. Hätte ich mich danebenbenommen, wäre sie es gewesen, die einen Tadel dafür kassiert hätte, und nicht ich. Da ich Sylvia sehr mochte, hätte ich in ihrer Gegenwart nie etwas Unmögliches getan. Ganz anders verhielt es sich allerdings, wenn ich in die Nähe von Koi geriet.
    Womit wir bei meiner zweiten Patenschwester wären: meiner gleichaltrigen Freundin Koi, mit der ich mir mindestens einmal am Tag einen Wettstreit lieferte. Und manchmal auch ein lautes Wortgefecht, nach dem wir beide heiser waren. Einer unserer Wettbewerbe hieß »l etztes Wort«. Es begann mit einer Geschichte, die eine von uns erzählte und die von der anderen fortgesetzt wurde. So lange, bis es nicht mehr ging. Während wir Rücken an Rücken gelehnt auf dem Boden saßen, sponnen wir über Stunden unseren Erzählfaden weiter: »Z wei Männer fuhren mit dem Boot flussabwärts zum Fischen …« Wenn eine glaubte, endlich den entscheidenden Punkt gemacht zu haben, weil die Fischer schon mitten in den Weltuntergang hineingeraten waren, zog die andere doch noch ein Ass aus dem Ärmel. Denn nach dem Weltuntergang lebte man eine Weile unter Wasser, und dann ging es

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