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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
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Gewürzmischung aus rotem Pfeffer, die derart scharf war, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Selbst vor den Schalen mit dem Waschwasser machte ich nicht halt, um den Brand in meinem Rachen zu löschen.
    Die größeren Mädchen lernten unzählige nützliche Dinge, die sie auf die Führung eines eigenen Haushalts vorbereiteten, wenn sie einmal heirateten. Mit dreizehn, vierzehn Jahren erwarteten die meisten bereits ihr erstes Kind. Während die Mädchen von den Frauen in Haus- und Handarbeiten unterwiesen wurden, begleiteten die Jungen ihre Väter, Onkel oder Paten auf die Jagd. Schon kleine Dreikäsehochs erlernten die Kunst, Taipis herzustellen. Jene Pfeilspitzen mit Widerhaken, mit denen man besonders gut Fische erlegen kann. Oder Ulali, die, mit flüssigem Lianengift bestrichen, zu Giftpfeilen werden. Bei manchen kam später auch der Umgang mit Gewehren und Schrotflinten dazu, die über Generationen gepflegt und weitergegeben werden. Mit Blasrohren und Steinschleudern, mit denen die Aparai in alten Zeiten gejagt hatten, konnte eigentlich kaum noch jemand in unserem Dorf umgehen. Nur einige der älteren Männer wie Araiba beherrschten diese Kunst noch. An besonderen Festtagen führte er uns seine stattliche Sammlung hin und wieder vor. Am meisten begeisterten uns natürlich seine Steinschleudern, die wir als Spielzeug nachbauten. Mein Freund Mikulu, der einzige Junge, der regelmäßig mit uns Mädchen spielte, war der Erfolgreichste, wenn es darum ging, kleinere Vögel oder Eidechsen damit zu erlegen.
    Auf mich machten vor allem die Knochenflöten von Araiba großen Eindruck. Sie waren nicht nur sehr schön, sie erzeugten auch die unglaublichsten Töne. Wenn wir Araiba nur lange genug anbettelten, erbarmte er sich und spielte uns einige Lieder vor, oder ahmte ein Vogelzwitschern nach, das so echt klang, dass es bald darauf von einem »r ichtigen« Vogel erwidert wurde. Ein Konzertbesuch ist nichts gegen die Freude, die ich damals bei Araibas Flötenspiel empfunden habe. Dass eine Flöte aus Knochen so seltsam schöne Töne hervorbringen konnte, lag daran, dass sie laut Araiba eine Seele hatte. Ganz im Gegensatz zu den vermeintlich »e chten Knochenflöten der Amazonasindianer«, die man heute in brasilianischen Touristenläden kaufen kann.
    Familienbande
     
    Auf Aparai gibt es kein Wort für Einsamkeit. Ich kannte das Gefühl gar nicht, bis ich nach Deutschland kam. Immer war jemand da, der sich um mich kümmerte, der nach mir sah, der mir half, wenn ich Unterstützung brauchte, der mich aufhob, wenn ich hinfiel, und zum Lachen brachte, wenn ich traurig war. In Mashipurimo war niemand allein. Es gab keine überforderten Mütter oder Väter, weil der ganze Stamm ein Kind miterzog. Ein eng geflochtenes Netzwerk aus Verwandten, Freunden, Nachbarn und Wahlverwandten, das die Kinder betreute, versorgte und dadurch die manchmal sehr jungen Eltern entlastete. Es gab auch keine Terrorkinder, die sich mit aller Macht von den Eltern abgrenzen wollten oder mussten, weil zu viel Druck und zu große Erwartungen auf ihren Schultern ruhten. Die Kindererziehung in unserem Dorf lief nebenher, sie war keine Hauptaufgabe und schon gar kein pädagogischer Spießrutenlauf wie hierzulande, wo zahlreiche Erziehungsratgeber den ohnehin schon verunsicherten Eltern den Blick aufs Wesentliche verstellen. Einzelkinder gab es im Urwald kaum. Und falls doch, wuchsen sie inmitten einer Horde anderer Kinder auf, wobei die Älteren ein Auge auf die Jüngeren hatten. Wir fühlten uns alle als Teil einer großen Familie. Und dieses Empfinden war unter anderem auch einem ausgeklügelten Patensystem zu verdanken. Kein schöner Begriff, doch ein Wort, das treffender wäre, finde ich nicht.

    Mashipurimo – ein Paradies für Kinder
     
    Jedes Kind hat Paten, zu denen eine besondere Verbindung besteht: im Idealfall ein älteres Kind als Beschützer und Vorbild, ein gleichaltriges als Spielgefährten und ein jüngeres, um zu lernen, was Verantwortung heißt. Jeder Aparai weiß, dass eine solche Bindung mit besonderen Verpflichtungen einhergeht. Es ist eine Bindung, die man nicht so einfach wieder lösen oder gar durch einen Streit beenden kann. Sylvia, Koi und später noch Tanshi waren meine Paten. Dabei waren sie mehr Verwandte als Freundinnen. Seelenverwandte. Schon bald nach unserer Ankunft im Urwald hatte mich Sylvia als ihren Schützling ausgewählt. Eine Kindheit ohne meine »g roße Schwester« kann ich mir im Nachhinein kaum vorstellen.

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