Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Die Gemeinschaft stand über allem – Harmonie als (Über-)Lebensziel. Das Zeitempfinden war ein gänzlich anderes als bei uns. Gäbe es eine indianische Uhr, sie würde doppelt so viele Stunden zählen und zwischendurch, wenn es am schönsten ist, einfach anhalten. Was für ein Gegensatz zu unseren hektischen Tagen, die wir manchmal derart mit Terminen und Verpflichtungen vollpacken, bis nur noch ein kläglicher Rest von ihnen übrig bleibt.
Wir lebten in einem Rhythmus, der nur durch die Tageszeiten bestimmt wurde. Ohne Strom, ohne Autos, ohne Geschäfte, ohne fließendes Wasser und ohne Spiegel, in dem man sein Aussehen hätte überprüfen können. Ein Dasein ohne Telefon, Fernseher, Terminkalender. Ohne die allgegenwärtige Geräuschkulisse einer Großstadt.
Wenn mich meine fünfjährige Tochter heute fragt, womit ich in ihrem Alter am liebsten gespielt habe, erzähle ich ihr, dass ich nicht wie sie in eine Kita ging und nachmittags auf den Spielplatz, ein kleines, eingezäuntes Fleckchen mit künstlich angehäuftem Sand, einer Schaukel und einem in die Jahre gekommenen Klettergerüst. Ich erzähle ihr, dass mein Spielplatz der Urwald war, mit Millionen von Bäumen und ineinander verschlungenen Pflanzen, durch deren tiefgrünes Blätterdach gelegentlich die tropische Sonne blinzelte. Mit exotischen und nicht immer ungefährlichen Tieren. Mit einem vielstimmigen Konzert aus Vogelgezwitscher, Insektensummen und einem geheimnisvollen Knistern und Knacken im Geäst, untermalt vom entfernten Kreischen der Affen. Dass ich an Lianen geklammert schaukelte und mit Hilfe einer engen Fußschlinge auf Bäume kletterte. Dass ich im lauwarmen, lehmig-holzig duftenden Rio Paru, einem Seitenarm des Amazonas, schwimmen lernte und nicht im muffigen Chlorwasser des städtischen Freibads. Und dass ich meinem ersten Jaguar nicht im Zoo, sondern in freier Wildbahn begegnet bin. Wenn auch aus sicherer Entfernung. Sein furchterregendes Gebrüll in der Nacht, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte, werde ich mein Leben lang nicht vergessen.
Meine Badewanne – der Rio Paru
Bis heute bin ich von großer Dankbarkeit erfüllt, dass ich eine Lebensweise kennengelernt habe, die sich vollkommen von dem unterscheidet, was uns normal erscheint. Deshalb möchte ich von meiner Zeit in Mashipurimo erzählen. Von Menschen, die anders leben, denken und handeln als wir. Von einem Lebensrhythmus, der uns verloren gegangen ist. Von einer Gesellschaft, die nicht von Konkurrenzdenken, Egoismus und Profitstreben geprägt ist, sondern von Gemeinsinn und Menschlichkeit.
Wir können das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, doch bringt uns unser rasantes Tempo tatsächlich schneller ans Ziel? Oder haben wir uns selbst und das, worum es im Leben eigentlich geht, auf dem Weg dorthin nicht längst aus den Augen verloren?
Traditioneller Olok-Tanz
Déjà-vu im Wohnzimmer
Als ich eines Nachmittags nach Hause kam, wunderte ich mich über die ungewohnte Stille in unserer Wohnung. Anders als sonst empfing mich nicht das laute Getrappel meiner Tochter im Flur, kaum dass ich den Haustürschlüssel im Schloss herumgedreht hatte. Kein kleines Wesen, das mir mit roséfarbenen Glitzer-Feenflügeln oder sonst einer Verkleidung über den gebohnerten Holzboden entgegengerutscht kam, um mir mit einem lang gezogenen »M aaamiii« um den Hals zu fallen. Auch nach mehrmaligem Sturmklingeln rührte sich nichts. Mir blieb also nichts anderes übrig, als eine gefühlte Ewigkeit lang im zugigen Treppenhaus nach meinem Schlüsselbund zu kramen. Die Tüte mit dem Obst vom Markt war in der Zwischenzeit umgefallen, und ein paar Äpfel kullerten die ersten Stufen des Treppenabsatzes herunter. Tock, tock, tock, tock, tock. Es war vollkommen klar, dass der Schlüssel mal wieder im letzten Winkel der allerletzten Tüte steckte. Leise vor mich hin fluchend, sammelte ich das Obst ein und schloss die schwere Wohnungstür auf.
Im Flur brannte die Lampe. Natürlich! Immer vergisst einer, das Licht auszuschalten. Wo steckten eigentlich alle? Während ich meine Einkäufe in die Küche schleppte, hörte ich ein Knistern und Rascheln aus dem hinteren Teil des Korridors. Vorsichtig öffnete ich die Flügeltür zum Wohnzimmer, wobei die Klinke mit den gewundenen Seerosenranken ein wehmütiges Quietschen von sich gab.
Eine Spur aus Hunderten verstreuter Schwarz-Weiß-Fotos und gerahmter Dias auf dem Boden wies mir den Weg ins Esszimmer. Ein Einbruch, schoss es mir für
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