Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Kanaleingang …«, begann sie konfus.
»Wo sind sie alle?« Carew blickte aufmerksam in ihr besorgtes Gesicht. »Euer Gesinde, meine ich.«
»Wer weiß?« Mit einem Achselzucken ließ Constanza die Röcke herunter, um die Unterkleider wieder zu bedecken. »Erinnert Ihr Euch an mein Dienstmädchen Tullia? Sie kommt immer noch ab und zu, aber heute eben nicht. Und was die anderen betrifft« – Constanza seufzte –, »von denen ist schon seit Monaten niemand mehr hier gewesen.«
Carew konnte sich nicht entsinnen, Constanza jemals zuvor bei Tageslicht gesehen zu haben oder überhaupt außerhalb des prachtvollen Raumes mit Ausblick auf den Kanal, in dem sie wie eine mit Juwelen geschmückte, alterslose Sphinx für ihre Besucher Hof hielt. Bei Tageslicht sah Constanza älter aus. Um ihre Augen zogen sich Fältchen und an ihrem Hals wurde die Haut schon etwas schlaff. Carew kam der Gedanke, dass sie vielleicht bewusst darauf achtete, nur bei Kerzenschein gesehen zu werden. Die meisten Männer, die sie kannte und von denen ihr Lebensunterhalt abhing, waren vermutlich nicht so nachsichtig. Nichts ist so widerlich wie eine alte Hure, meinst du nicht auch?, hatte Francesco neulich Nacht verächtlich gesagt. Trotzdem kam es Carew schon fast blasphemisch vor, als er Constanza jetzt dabei beobachtete, wie sie wie eine gewöhnliche Frau in ihrer Küche nach Brot und Käse kramte.
Als Constanza im oberen Stockwerk wieder in ihrem wunderschönen, abgedunkelten Empfangsraum thronte, schien sie sich wohler zu fühlen. Mit dem gewaltigen Himmelbett in der Mitte und dem kleinen Tisch, auf dem der türkische Teppich lag, wirkte das Zimmer wie eine leere Kirche. Tagsüber wurde stets eine Reihe von Sonnenblenden vor den Balkonfenstern heruntergelassen, um das Zimmer vor der sengenden Hitze abzuschirmen, doch jetzt öffnete Constanza die Fenster weit, in der Hoffnung auf eine Abendbrise.
»Che caldo!« Sie tupfte sich Hals und Schläfen mit einem Tuch ab. »O Gott, diese Hitze. Habt Ihr gehört? Man sagt, dass uns im Sommer die Pest wieder heimsuchen wird.«
Das Abendlicht, das vom Kanalwasser reflektiert wurde, tanzte an der Decke über ihren Köpfen. Eine Zeitlang blickte Constanza auf den Kanal hinunter und wandte dabei Carew den Rücken zu. Ihr dunkles Haar hing wie ein dickes geflochtenes Seil an ihrem Rücken herab. Sie trug dasselbe ärmellose osmanische Gewand in Pfauenblau und Gold, in dem Carew sie beim letzten Mal gesehen hatte.
Jetzt lehnte sie die Stirn an eine der kühlen Steinsäulen. »Glaubt Ihr, dass er kommt?«
Carew lächelte ihr zu. »Das habt Ihr mich schon beim letzten Mal gefragt, erinnert Ihr Euch?«
»Ja, so ist es.« Constanza hatte die Augen geschlossen. »Aber wie lautet Eure Antwort diesmal, John Carew?«
»Ich hatte gehofft, dass Ihr es mir verratet.«
»Ach, Ihr seid auch auf der Suche nach ihm? Nun, dann sind wir wohl wieder genau da, wo wir angefangen haben: Wir warten auf Paul Pindar.« Constanza seufzte. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie satt ich das Warten habe.«
Sie nestelte gedankenverloren an dem roten Edelstein, der an einer Goldkette um ihren Hals hing.
»Es stimmt, dass er ein paar Nächte hiergeblieben ist, nachdem Ihr diesen Ambrose mitgebracht hattet, aber seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Ihr Blick schweifte aus dem Fenster. »Er ist wohl immer noch in sie verliebt?«
»Verliebt in wen?«
»In dieses Mädchen, in Celia Lamprey.«
»Man kann nicht in jemanden verliebt sein, der tot ist«, erwiderte Carew barscher als beabsichtigt. »Das ergibt für mich keinen Sinn.«
»Woher wisst Ihr, dass sie tot ist?«
»Gestorben für ihn, wie ich schon gesagt habe«, knurrte Carew ungeduldig. »Das läuft doch auf dasselbe hinaus, oder?«
»Da spricht ein wahrer Philosoph.« Constanza wandte sich zu Carew um und lächelte spöttisch. Sie gab sich Mühe, ihre düstere Stimmung abzuschütteln und sagte neckisch: »Bravo, John Carew. Kommt, trinkt ein Glas Wein mit mir, bevor Ihr geht.«
Sie schritt quer durch das Zimmer zu dem Tisch am Fuße des Himmelbettes, auf dem sie etwas Brot und Käse und einen Weinkrug bereitgestellt hatte. Ihre Schritte hallten dumpf auf dem nackten Fußboden.
»Und was ist mit Euch, John?« Sie reichte ihm einen der langstieligen Glaskelche. »Sagt mir«, fuhr sie in ungewohnt ernstem Ton fort, »seid Ihr jemals verliebt gewesen?« Doch als sie seinen Gesichtsausdruck sah, fing sie an zu lachen. »Oh, ich habe alles über Eure nächtlichen
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