Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Annettas Blicke schweifte durch die Zelle, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. »Dann bekam der Eunuch sie zu fassen, aber als er meine Stimme hörte, senkte er das Schwert. Ich rannte schluchzend auf ihn zu, schrie ihn an, ich wusste kaum noch, was ich tat. ›Tut ihr nicht weh, tut ihr nicht weh! Sie hat nichts getan!‹ Er schaute sich um, wunderte sich, wer da so laut schrie, und schien sich unsicher zu sein, was er tun sollte. Ich sah Celias verzweifeltes Gesicht. Und in diesem Augenblick bemerkte sie mich. ›Du!‹
Ich hatte noch nie zuvor einen solchen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen.
›Was?‹ Zuerst war ich verwirrt. Ich wusste nicht, was sie meinte. ›Du hast die Wachen gerufen!‹
›Nein!‹
›Natürlich warst du das!‹
›Celia … bitte …‹ Ich konnte kaum sprechen. ›Hör mir zu …‹
Aber sie hörte nicht auf mich. Sie riss sich mit Gewalt von ihrem Fänger los und versuchte wegzulaufen. Ein zweiter Eunuch, der gerade dazugekommen war, schlug mit seinem Schwert nach ihren Beinen. Er war flink und geschickt wie ein Metzger mit seinem Messer. Ich sah die Klinge im Mondlicht aufblitzen. Zwei schnelle Schnitte. Eins, zwei, ungefähr so.« Annetta hieb mit dem Arm durch die Luft.
»Celia fiel einfach hin.« Annetta kniete jetzt auf dem Bett, ihr Gesicht glich einer Maske. »Celia, gefällt wie ein Baum, vor meinen Augen. Der Eunuch hatte die Rückseite ihrer Beine aufgeschlitzt und ihr dabei beide Kniesehnen durchtrennt.« Annetta versagte fast die Stimme. »Das wird manchmal mit Sklaven gemacht«, fuhr sie leise fort, »um uns am Fortlaufen zu hindern.«
Die beiden Frauen schwiegen lange. Irgendwo läutete eine Glocke. Sie hörten, wie sich die Nonnen in den anderen Zellen auf das erste Morgengebet vorbereiteten. Annetta und Eufemia jedoch rührten sich nicht, als hätten sie sich heimlich abgesprochen.
Als die letzte Nonne polternd die Treppe zur Kapelle hinabgestiegen war und sie sich allein im Dormitorium wussten, wandte sich Eufemia wieder Annetta zu.
»Was ist aus ihr geworden?« Sie schien von Celias Schicksal beinahe genauso ergriffen zu sein wie Annetta selbst.
»Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis ich das herausfand.« Annetta legte sich wieder ins Bett und zog zitternd die Decken über sich. »Sie war nicht tot, dessen war ich mir ziemlich sicher, denn sonst hätte ich die Kanonen gehört, die sie in einem solchen Fall abfeuern. Irgendjemand sagte mir, sie sei in die Krankenstation gebracht worden, aber danach …« Annetta zuckte die Achseln. »Niemand schien etwas zu wissen. Alle taten, als hätte sie nie existiert. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst, einfach so – paff.« Annetta machte eine rasche Handbewegung.
Der kleine Spatz auf der Fensterbank regte sich und begrüßte den Tag, indem er die Flügel aufplusterte und in seinem Käfig zu zwitschern begann. Nach einer Weile nahm Annetta den Faden der Geschichte wieder auf.
»Das Leben im Harem ging weiter wie bisher. Niemand sprach über Celia oder Kaya, wie sie dort genannt wurde. Noch nicht einmal die kislar, die Konkubinen, wie ihre Freundinnen Gülbarhar und Türkan. Ich wusste, dass mich die Valide scharf beobachtete, ganz so, wie sie Celia beobachtet haben musste. Ich glaube, dass sie sich sogar über mich wunderte. Hatte ich wirklich meine Freundin verraten wollen? Das traute sie mir eigentlich nicht zu. Aber ich musste mitspielen, ich musste sie in diesem Glauben lassen. Ich dufte auf keinen Fall zeigen, wie sehr ich Celia vermisste, wie dringend ich wissen wollte, wo sie war, was mit ihr geschehen war. Also hielt ich die Augen offen, aber den Mund geschlossen. Ich setzte eine perfekte Maske auf. Aber ich schwor, dass ich sie eines Tages finden und uns beide aus dem Harem herausbringen würde.
Die Jahre vergingen – insgesamt vier –, und jedes glich dem vorigen. Und dann ereigneten sich fast gleichzeitig zwei sehr ungewöhnliche Dinge. Als Erstes erfuhr ich endlich, wo Celia war.«
»Wie das?«
»Ausgerechnet die Valide hat es mir verraten.« Annetta schüttelte den Kopf. »Sie hatte sich eine Zeitlang im Alten Palast – im Tränenpalast, wie er genannt wurde – aufgehalten, das ist der Ort, an den die Frauen des Padischahs ziehen, wenn dieser stirbt. Ich wartete ihr in ihren Privatgemächern auf, und plötzlich hörte ich sie sagen: ›Ich habe heute deine Freundin Kaya gesehen.‹ Sie erwähnte es so beiläufig, als ob sie über das Wetter spräche. Eufemia!« Annetta legte die Hand
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