Das Mädchen von San Marco (German Edition)
auf ihr wild schlagendes Herz. »Kannst du dir vorstellen, was ich in diesem Moment fühlte? Ich traute meinen Ohren nicht!
Ich habe deine Freundin Kaya gesehen . Hatte ich sie wirklich richtig verstanden? Ich spürte, wie die Knie unter mir nachgaben. Glücklicherweise hatte ich mich schon an ihre kleinen Tricks gewöhnt – sie wurde damals allmählich alt und gehässig – und war so geistesgegenwärtig, den Blick gesenkt zu halten, sodass sie meinen Gesichtsausdruck nicht deuten konnte.
›Majestät?‹
›Ich habe gesagt, dass ich deine Freundin Kaya heute im Alten Palast gesehen habe.‹
›Kaya? Ah, ja … Majestät‹, stammelte ich.
Celia war am Leben! Und nicht nur das – sie lebte sogar ganz in meiner Nähe. Die ganze Zeit! Ich konnte nur darauf hoffen, dass meine Stimme mich nicht allzu sehr verraten würde.
Eine Zeitlang sagte die Valide nichts mehr. Sie ließ mich eines ihrer Schultertücher bringen, und ich half ihr zu ihrem Lieblingsplatz am Fenster. Wie gern hatte sie dort immer gesessen! Ich erinnerte mich plötzlich wieder daran, wie ich sie zum ersten Mal in diesem Raum bedient hatte. Ich hatte mich so gelangweilt! Wir waren zu viert, ihre vier Lieblingsdienerinnen. Wir mussten natürlich stehen. Wie uns der Rücken wehtat! Die Valide saß stundenlang am Fenster und beobachtete den Schiffsverkehr am Goldenen Horn – die Handelsschiffe, die anlegten und abfuhren. Sie beobachtete, träumte oder schmiedete Pläne. An jenem Tag kam es mir vor, als hätte ich nie etwas anderes getan.
›Es war wirklich bedauerlich‹, sagte die Valide nach einer Weile nachdenklich und blickte dabei nach wie vor starr aufs Wasser. ›Der Padischah hat sie immer gemocht.‹
Sie sah mich dabei nicht an, aber ich hütete mich dennoch, unvorsichtig zu werden. Meine Augen blieben gesenkt. Sie hatte diese Gabe, einen zu beobachten, selbst wenn sie den Blick abgewandt hatte. Ich weiß nicht, wie sie es anstellte, aber man musste immer darauf gefasst sein.
›Du bist so ungewöhnlich still heute, Aysche‹, sagte sie nach einer Weile.
Still? Du lieber Gott! Mein Hals brannte so sehr, dass ich zu ersticken meinte. Ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich sie liebte oder hasste. Ich wollte ihr antworten, aber ich brachte keinen Ton heraus.
›Weine nicht, Aysche‹, hörte ich sie ganz freundlich sagen. ›Ich weiß, wie es ist, einen Freund zu lieben.‹«
Einen Augenblick lang war es in der kleinen, weiß gekalkten Klosterzelle vollkommen still. Eufemia rührte sich nicht, sie wollte den Bann nicht brechen. Und als Annetta weitersprach, war ihre Stimme ruhig und fest.
»Das waren die letzten Worte, die sie zu mir sagte. Zwei Tage später war sie tot.«
»Was, die Königin ist gestorben?«
»So haben wir zuerst auch reagiert.« Annetta musste über Eufemias entsetztes Gesicht lächeln. »Die Valide gestorben! Das war einfach nicht möglich. Und doch. Sie starb in der Nacht. Und ich habe sie gefunden.«
Annetta drehte sich auf den Rücken und starrte zur Decke. Ihre Gedanken wanderten zurück in das Schlafgemach der Valide. Sie sah den Körper dort liegen, die schon leicht gelbliche Haut, den erschlafften Mund, die ordentlich übereinandergelegten Hände. Sie hatte den starken Eindruck gehabt, dass endlich ein Zauber gebrochen worden war und sie zum ersten Mal die Wahrheit erkannte, die Wahrheit über die Valide und die Wahrheit über den Tod.
Hatte das sie dazu bewogen, den Diamanten zu stehlen?
Bei dem Gedanken daran bekam Annetta auch jetzt noch Schweißausbrüche. Der Diamant war so groß, dass er nicht vollständig in die geballte Faust der Valide gepasst hatte. Der Blaue Stein des Sultans!
Wie oft hatte sie seitdem die Schrecken dieser endlosen Minuten durchlebt, den Kampf um den Diamanten mit dem bereits erstarrenden Körper. Annetta setzte sich entschlossen auf, als wollte sie die unangenehmen Gedanken abschütteln, und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.
»Da ich der Valide persönlich als Kammerdienerin unterstanden hatte, war ich jetzt frei. Sie hatte mir die Freiheit geschenkt«, sagte Annetta und wählte dabei ihre Worte mit Bedacht. »Und sie hat mir noch etwas hinterlassen. Etwas von großem Wert. Einen Diamanten.«
»Was?«
»Man nennt ihn den Blauen Stein des Sultans.«
»Sie hat ihn dir geschenkt?«
»Nein, du Dummkopf. Sie war tot, hast du das vergessen?« Annetta hatte nicht vorgehabt, Eufemia so heftig anzufahren. »Ich habe ihn ihr gestohlen.«
»Wie bitte?«
»Hatte
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