Das Maedchengrab
innen die Riegel aufgeschoben wurden. Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau trat ihnen entgegen. Sogleich erkannte Fine die um fünf Jahre ältere Ulla. Sie war ein Mädchen aus dem Dorf, das noch bis Ostern desselben Jahres die hiesige Schule besucht hatte. Seit dem Frühjahr stand sie als Jungmagd beim Oberlandbauern in Diensten.
Sie hob den Zeigefinger an die Lippen.
»Ulla?«, flüsterte Fine erschrocken. »Was tust du hier? Warum hast du abgeriegelt?«
»Ich will euch Bescheid geben«, antwortete Ulla ernst und dabei liebevoll. »Eure Eltern sind nun beide schwer krank. Sie liegen in hohem Fieber.«
Aus dem Innern des Hauses hörte Fine ein Geräusch. Dort trat eine alte Frau von der Schlafkammer in die Küche, das schlohweiße Haar nachlässig gebunden und die Wangen voll aufgeworfener Falten. Sie hieß Marianne Kürten, und da sie stets schwarz gekleidet ging, nannte man sie die Schwarze Marjann. Im Dorf sprachen die Kinder sie mit »Tante« an, obwohl sie mit keinem hier verwandt war. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte sie ihren Mann verloren, und zwar durch tragische Umstände, an denen Marjann selbst unschuldig gewesen war. Alle Kinder kannten die Geschichte von Marjanns Mann Berthold. Sie wurde auch nach zwei Jahrzehnten immer noch im Dorf erzählt, um die nachfolgende Generation zu lehren und zu warnen. Denn Berthold hatte gegen die Gebote der Kirche sowie das irdische Gesetz verstoßen und dafür seine Strafe bekommen: Er war bei einem räuberischen Überfall, den er mit seinen Kumpanen auf die Postkutsche gemacht hatte, erschossen worden.
Marjann trug ein Kind unter dem Herzen, als die Leiche ihres Mannes ins Dorf gebracht wurde. Um sich für den Überfall zu tarnen, hatte er sein Gesicht mit Ruß schwarz gemalt. Damals behielt Marjann in beachtenswerter Weise die Fassung. Sie wusch ihrem toten Mann das Gesicht rein, als könnte sie damit auch seine schwarze Schuld abwaschen.
Obwohl sie danach im Dorf nur noch wenig gelitten war, blieb sie wohnen und gab sich freundlich zu jedermann. Anfangs sah es so aus, als wäre das Schicksal milde zu ihr, denn einige Monate nach dem Tod ihres Mannes brachte sie einen gesunden Knaben zur Welt. Doch schon bald darauf überkam viele Bewohner des Dorfes eine schwere Krankheit. Alle drei Töchter von Marjann starben, und nur das Kind, mit dem sie damals beim Tod ihres Mannes schwanger gewesen war, blieb am Leben. Ihr Sohn Hannes wuchs heran zu einem schmucken Burschen, wenn auch mit seltsam dunklem Gesicht. Zu der Zeit, als die Eltern von Fine und Basti in schwerem Fieber lagen, weilte Hannes schon lange in der Fremde, doch seine Mutter sprach oft von ihm. »Mein Hannes« hörte man in jeder ihrer Reden.
Marjann selbst war ihr Leben lang nicht aus dem Dorf fortgekommen, nicht einmal auf eine kürzere Reise. Sie hatte auch kein Verlangen danach. Man sollte es kaum glauben, aber sie war eine der heitersten Personen im Dorf. Nie sah man sie traurig. Fast kam es den Bewohnern so vor, als gönnte sie es ihnen nicht, Mitleid mit ihr zu haben. Und darum erschien sie einigen unheimlich. Sie war im Winter die fleißigste Spinnerin im Dorf und im Sommer die emsigste Holzsammlerin. Derartige Mengen trug sie zusammen, dass sie noch einen guten Teil davon verkaufen konnte.
An diesem Septembertag also tat Marjann ihren Dienst im Haus des Hauerfranz und seiner Frau. Als sie die Kinder auf der Türschwelle mit Ulla redend bemerkte, trat sie zu ihnen.
»Eure Mutter hat heute Morgen, nachdem ihr zur Schule gegangen wart, noch beim Köhlmattes Bescheid gegeben. Sie hat um Hilfe gebeten, weil ihr Fieber immer höher stieg. Ich pflege nun eure Eltern.«
»Danke«, Fine nickte, obwohl sie nicht recht verstand, was hier im Hause vor sich ging.
»Ihr könnt zu ihnen«, erklärte Ulla. »Doch nur kurz, damit ihr euch nicht ansteckt.«
Fine überkam ein tiefes Gefühl der Angst, und als sie zu Basti hinübersah, erkannte sie, dass es ihm wohl noch schlimmer erging. Da griff Ulla die Kinder an den Händen und führte sie zur Schlafkammer, blieb aber mit ihnen im Türrahmen stehen.
Sie erschraken, als sie ihre Eltern dort mit hohen, von vielen Kissen gestützten Oberkörpern in der Bettstatt sahen. Der Vater wie die Mutter schliefen, doch nicht friedlich, wie die Kinder es gewohnt waren, sondern mit rasselndem, schwerem Atem und Schweißperlen auf den bleichen Gesichtern.
Die Schwarze Marjann trug kaltes Bachwasser herein. Sie tränkte weiße Leintücher damit, drückte sie aus
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