Das Maedchengrab
Seite, dabei machte er ihnen eine Ankündigung: Basti sollte ab sofort beim Ravenzacher und Fine bei der Schwarzen Marjann unterkommen. Dies sei der Entschluss des Gemeinderates.
Der Bauer achtete nicht darauf, wie die Kinder diese Nachricht annahmen, sondern schloss mit den Worten: »So, nun geht mit Ulla noch einmal auf meinen Hof zurück. Packt eure Sachen, die ihr dort habt, und dann wird mein Großknecht euch zum Ravenzacher und zur Schwarzen Marjann bringen.«
Es fuhr ein Schreck in die Kinder, als sie diese Sätze hörten. Aber sie mussten gehorchen, auch wenn weder der Schwarzen Marjann noch dem Ravenzacher der Ruf vorauseilte, dass sich dort ein Kind auf Anhieb wohlfühlen konnte.
Der Ravenzacher, ein Mann um die fünfzig Jahre, stellte sich vor der Welt gern großzügiger dar, als er in Wirklichkeit war. Er tat so, als wäre er der gutmütigste Allesverschenker, im Geheimen aber knuffte und piesackte er seine Angehörigen. Eigentlich hieß er Zacharias und hatte seinen Spitznamen, weil er einst seiner Frau ein paar fein hergerichteter Tauben als Braten heim gebracht hatte, die in Wirklichkeit aber keine Tauben, sondern bloß gerupfte Raben waren. Eine Base seiner Frau, die zufällig zugegen war, erkannte die Täuschung sofort.
Solch eine Aufschneiderei mochte beispielhaft sein für das Gemüt des Ravenzachers, allerdings war seine Frau durchaus wohlwollend. Sie hatte immer dafür gesorgt, dass er seinen Jähzorn nicht gegen seine Kinder ausließ. Die waren inzwischen erwachsen und hatten längst das Elternhaus verlassen. Vor vielen Jahren war der Ravenzacher mit dem Fuß in eine Fuchsfalle geraten, seitdem trug er einen hölzernen Stelzfuß. Seine meiste Zeit verbrachte er damit, wollene Strümpfe und Jacken zu stricken, und so saß er mit seinem Strickzeug überall im Dorf herum, wo es etwas zu plaudern gab. Dieses Geplauder, bei dem er allerlei hörte, diente ihm zu einträglichen Nebengeschäften. Er war der sogenannte Heiratsmacher in der Gegend. Denn bei den großen Gutshöfen geschahen die Heiraten in der Regel durch Vermittler, die die Vermögensverhältnisse vorher auskundschafteten. Und wenn dann eine solche Heirat zustande gebracht war, spielte der Ravenzacher noch bei der Hochzeit die Geige auf, denn darin war er ein Meister. Er verstand aber auch, die Klarinette und das Horn zu blasen, wenn ihm die Hände vom Geigen müde waren.
Des Ravenzachers Frau hatte schon oft gesagt, dass sie sich die Gegenwart eines Kindes wünschte. Sie selbst hatte zwar fünf gesunde Kinder geboren. Doch von denen gab es bisher nur zwei Enkel, die noch dazu einige Tagesmärsche entfernt bei Monschau lebten.
So ließ der Ravenzacher gegen geringes Kostgeld den Knaben Basti bei sich unterkommen, Fines Aufnahme hingegen lehnte er ab mit den schroffen Worten: »Ein Kind reicht. Zumal ich ja doch nur draufzahle bei den paar Groschen, die ich dafür bekomme.«
Dabei wussten alle Leute im Dorf, dass Bastis empfindsames Wesen nicht zum Ravenzacher passte, erst recht nicht, wenn er sich von seiner Schwester trennen musste. Doch darauf nahm niemand Rücksicht, die Schonung der Gemeindekasse war nun einmal wichtiger.
Das neue Quartier
Wie ihnen befohlen war, kehrten die Kinder mit schwerem Herzen zurück zum Gehöft des Oberlandbauern.
Fine ging zu Ulla in die Küche und nutzte die Gelegenheit, sich der jungen Frau anzuvertrauen. »Sag, Ulla? Warum können wir denn nicht hier auf dem Hof bleiben?«
Ulla lächelte mitfühlend. Sie verstand, was in den Seelen der Kinder vor sich ging. »Ich weiß nicht viel darüber, was der Oberlandbauer entscheidet. Aber soweit ich gehört habe, meint er, als Vormund tut er schon viel für euch. Da möchte er euch nicht auch noch in seinem Haushalt aufnehmen.«
»Aber warum können Basti und ich nicht zusammen bleiben?«, fragte Fine weiter. »Warum muss er zum Ravenzacher und ich zur Schwarzen Marjann?«
»Auch dafür gibt es Gründe.« Ulla seufzte. »Niemand im Dorf hier will euch beide gleichzeitig aufnehmen. Zwei zusätzliche Kinder für knappes Kostgeld, das ist allen zu viel.«
»Ja dann«, sagte Fine traurig und sah Ulla fest an, denn jetzt kam die entscheidende Frage. »Stimmt es denn, was manche Leute sagen? Dass die Marjann eine unholde Frau ist?«
»Aber nein!«, rief Ulla aus. »Nein, Fine, das stimmt gewiss nicht. Und es sind törichte Leute, die so etwas meinen. Die Schwarze Marjann hatte ein schweres Leben, aber sie ist sicherlich keine Hexe. Und bestimmt auch keine
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